Sie sind sehr ängstlich, was ihre Sicherheit betrifft, was
vermutlich mit den Ereignissen um den 11. September zusammenhängt.
Wir sollten uns diesbezüglich nicht wundern. Da keiner von
ihnen der deutschen Sprache mächtig ist, bringen sie einen
Dolmetscher mit. Termin des Seniorentreffens: Freitag, den 07.04.06,
15.00 Uhr. Zur Zeit machen sie Station in Dresden.
Problem: Harry hat keine Zeit. Er will
noch einmal auf seinen geliebten Gletscher zum Ski laufen. Darum
sein Vorschlag: Die US-Senioren sollten in Dresden beim Computerclub
ARTOS vorbeischauen. Die zählen bereits 155 Mitglieder und sind
mithin weiträumiger organisiert und gewiss für eine solche Begegnung
attraktiver als wir.
Mit anderen Worten: wir stehen nicht zur
Verfügung.
Samstag 08.04.
Anruf von Clubmitglied Rudolf S. im
Auftrag von Harry Wenzel.
Nachricht: Die US-Senioren lassen
sich nicht abschütteln, wollen uns unbedingt kennen lernen. Neuer
Termin: Dienstag, den 11.04., in der Galerie. Um Erscheinen wird
gebeten. Harry ist dann auch wieder aus dem Urlaub zurück.
Dienstag 11.04.
15.00 Uhr: Wir versammeln uns zum
Empfang der US-Senioren. Anwesend sind: Harry Wenzel, Margot S.,
Helga und Frieder B., Renate und Diethelm R., Renate F., Dr. Ute H.,
Heinz G. und Christine R.. Leichte Bedenken unsererseits, was wir
wohl Wichtiges miteinander bereden sollten, zerstreut Harry: die
wollen halt sehen, was wir hier so am Computer machen. Na gut, wir
werden sehen...
16.15 Uhr: Die Tür öffnet sich
schwungvoll und herein stürmen fünf Leute - vier Männer und eine
Frau, Filmkamera, Mikrofon und einige andere eigenartige Utensilien
dabei -, auf den ersten Blick keine Senioren, vielleicht aber doch
Amerikaner, einer, ein langer schlanker trägt einen
funkelnagelneuen, schneeweißen Cowboyhut, als Symbol nicht zu
übersehen.
Wir sind erstaunt, verblüfft und
harren gespannt einer Erklärung. Der Dolmetscher lässt uns wissen:
eine inkognito reisende, sehr hochrangige Persönlichkeit möchte
unseren Club, insbesondere unseren Vorsitzenden Harry Wenzel kennen
lernen und dies hier sei ein im Vorfeld eines solchen Besuches
üblicher Sicherheitscheck. Der eigentliche Besuch soll erst nächste
Woche am Donnerstag, den 20.04.06, stattfinden.
Nun ja, andere Länder, andere Sitten.
Wir finden die Sache zwar überzogen, aber sollen sie tun, was sie
für nötig halten.
Neugierig macht uns eher die
inkognito reisende Persönlichkeit. Das Zauberwort "Silicon Valley"
ist bereits gefallen. Der Dolmetscher hat es leise, mehr nebenher,
getarnt als vertraulich Mitteilung, die weiter zu geben er
eigentlich nicht befugt ist, in seine Rede einfließen lassen. Das
ist unseren gespitzten Ohren nicht entgangen.
Silicon Valley - die Wiege des PC!
Das liegt ganz auf unserer Linie. Wir bringen das Erlauschte sofort
mit einer Persönlichkeit in Verbindung: Bill Gates. Im Grunde ein
Hirngespinst, der Mann scheffelt seine Milliarden weiß Gott
woanders, doch egal im Moment der Überrumpelung, nachhaken und der
Sache auf den Grund gehen werden wir später. Dennoch - Bill Gates
hier bei uns im Club? Unmöglich. Gedanke schnell wieder verworfen.
Etwas anderes fesselt unsere
Aufmerksamkeit. Der Sicherheitcheck hat begonnen. Die junge, bestens
gestylte Frau spaziert urplötzlich mit einer knallroten Wasserwaage
durch den Raum, hält sie an die weiß getünchten Wände, mal
senkrecht, mal gerade, mal schief... Ich kann mir nicht verkneifen,
dem Dolmetscher zuzuraunen, dass ich Bauingenieur bin und vielleicht
bei diesem absurden Vorgang hilfreich - wem auch immer - unter die
Arme greifen könne. "Bitte lachen Sie nicht", kommt es gezischelt
zurück. Ich reiße mich zusammen. Vielleicht ist ja in der - warum
aber dann so auffällig roten? - Wasserwaage ein Chip eingebaut, der
irgend etwas misst. Die äußere Form nur eine Tarnung, wer weiß...
Was mögen die anderen denken? Ich verfolge den Vorgang amüsiert,
sehe ungläubiges Staunen in den Augen unserer Leute. Helga B.
ergreift die Initiative und spricht die junge Frau in sicherlich
tadellosem Englisch an. Keine Reaktion von Seiten der Checkerin.
Hätte sie die lieber auf chinesisch ansprechen sollen? Versteht sie
überhaupt Englisch? Unsere Blicke kreuzen sich. Helgas Blick spricht
Bände.
Doch noch längst nicht genug der Ungereimtheiten. Jetzt holt die
junge Frau eine Wünschelrute heraus und tastet den Raum nach
negativen Energien ab.
Während sie ihre Arbeit unbeirrt fortsetzt und alle vier Ecken
mehrfach einer Kontrolle unterzieht, trägt der Dolmetscher eine
Bitte des zu erwartenden Gastes vor: ob wir anlässlich des
anvisierten Treffens am nächsten Donnerstag eine Kanne Kaffee für
den Gast und uns bereit halten könnten? Nichts leichter als das.
Harry sagt, der Kaffee sei kein Problem. Nun ja, der Gast hätte noch
eine Bitte. Ob wir ihm dazu auch ein Stück hausbackenen Apfelkuchen
anbieten könnten? Wir wissen, dass Harrys Frau prima Apfelkuchen
backen kann. Erst unlängst haben wir - zu Harrys Geburtstag - einen
verdrückt. Deshalb lässt sich Harry nicht lange bitten. Der
Apfelkuchen ist ebenfalls gebont. Aller guten Dinge sind jedoch
Drei. Der unbekannte Gast hat noch einen Wunsch. Ob wir zu seiner
Begrüßung ein Lied singen könnten, ein deutsches Volkslied, eins,
das er besonders gern mag... Der Dolmetscher hat den Namen des
Liedes noch nicht ausgesprochen, da platzt Harry auch schon heraus:
"Muss i denn, muss i denn zum Städtele hinaus?"
Wenn das keine Eingebung ist? Sogar
der Dolmetscher ist überrascht. Genau das Lied hat sich die
inkognito reisende, sehr hochrangige Persönlichkeit gewünscht, das
Lied und kein anderes. Unser Harry ist ein Hellseher. Na dann: Muss
i denn, muss i denn..." Bei den Amis wundert einen sowieso nichts.
Ich wage wieder einen Blick zu Helga
B. hinten in der letzten Reihe. Herrlich - ihr Gesichtsausdruck!
Mittlerweile alles andere als amüsiert. Wie lange kann sie noch an
sich halten?
Doch längst nicht genug der
Kuriositäten. Jetzt bekommen wir mitgeteilt, dass die besondere
Persönlichkeit sich vorab mit unseren Gesichtern vertraut machen
möchte. Die Filmkamera, die bislang eher wahllos über unsere Häupter
geschweift ist, geht jetzt gezielt auf die Person. Jeder soll sich
hinstellen, Namen und Alter nennen. Harry als erster.
Harry vor der Kamera mit ernstem
Gesicht:: "Ich heiße Harry Wenzel und bin 70 Jahre alt."
Diethelm R.: "Ich heiße Diethelm R.
und bin 70 Jahre alt."
Margot S.: "Ich heiße Margot S., aber
mein Mann ist heute nicht da, der kommt erst nächste Woche." Keine
Frage, er kann kommen, wird nicht abgelehnt.
Der Vorgang stoppt. Keiner will mehr
vor die Kamera, um auf derart alberne Weise das Geheimnis seines
Alters preiszugeben.
Schade, finde ich und bin längst der
Meinung, dass wir in der Sendung "Verstehen Sie Spaß" oder etwas
Ähnlichem sind. Für Späße bin ich immer zu haben. Warum also eine
eventuell noch nicht absehbare Pointe vermasseln? Also springe ich
auf und sage meinen Vers auf: "Ich heiße Christine Resties und bin
65 Jahre alt." In der Hitze des Gefechts habe ich mich aus Versehen
ein paar Jahre älter gemacht als ich eigentlich bin. Ist mir noch
nie passiert. Einfach blöd.
Keiner nach mir? Doch. Renate F.
macht gute Miene zum undefinierbaren Spiel. Sie ist die letzte vor
der Kamera, die anderen verweigern sich verunsichert bis empört ob
der Anmaßung dieses eigenartigen Teams mit schwer bis überhaupt
nicht abzuschätzenden Beweggründen für ihr unsinniges Tun. Schluss.
Ende der Veranstaltung. Nichts mehr zu holen. Vorhang. Der Spuk
verschwindet - man hat den Eindruck: schleunigst - durch die Tür und
lässt eine für den ersten Moment sprach- und ratlose
Internetseniorengemeinschaft zurück.
Dann schlagen die Wellen hoch. Damit
sie der Sturm peitscht, stimme ich schon mal "Muss i denn, muss i
denn zum Städtele hinaus" an, aber keiner singt mit. Die Stimmung
schlägt in Richtung offene Empörung um.
Helga B. bringt es auf den Nenner:
"Das war eine Unverschämtheit, was die hier abgezogen haben."
Harry Wenzel drückt es deutlicher
aus: "Ich glaube, wir werden hier verarscht, aber warum? Eins kann
ich sagen, das Lied singen wir nicht, das zieh ich aus dem Internet
und brenne es auf CD. Können sie haben."
Eingedenk des Bildes, das sich ein
durchschnittlicher Europäer von den Amis macht, bleiben rund 10%
Wahrscheinlichkeit übrig, dass vielleicht doch irgend etwas an der
Sache dran ist.
Harry: "Bei denen muss man mit allem
rechnen."
Unvergessen ist auch die kuriose
Geschichte des Chorleiters Gotthilf Fischer, der vor Jahren auf so
fatale Weise mit dem Besuch der englischen Königin reingelegt worden
war. Also doch: "Verstehen Sie Spaß"?
"Mit mir machen die so was nicht",
sagt Harry. "Ich gehe der Sache auf den Grund. Ich rufe bei der
Agentur an. Ich kläre das. Ein gewisser Wolf sitzt dort. Was auch
immer dabei rauskommt, ich teils euch mit. Ihr braucht nächste Woche
nicht extra kommen."
Und damit war die Sache eigentlich
erst einmal abgehakt. Nicht ganz.
Dr. Jürgen B., Leiter der Begegnungs-
und Bildungsstätte "Aktives Alter - neue Medien", kommt kurz zu uns
in den Computerraum. Ich berichte ihm blumenreich, was sich hier
abgespielt hat. Er ist sichtbar unangenehm berührt und sagt: "Ich
habe mich schon gewundert, warum vor der Galerie so viel Polizei
ist. Die halten jedes Auto an."
Polizeikontrollen? Vor der Galerie? Das haben wir noch nie erlebt.
Sollte doch eine hochrangige Persönlichkeit hier abgestiegen sein?
Merkwürdig, sehr merkwürdig ...
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