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Über den Wolken
Oft denke ich zurück an jenen 9. Mai 1988 ...
Es sollte eigentlich Abend werden über dem weiten Land, aber die
Sonne stemmte sich mit aller Kraft gegen den Horizont. Seit Stunden
hing sie an der gleichen Stelle und glotzte mich an. Es war, als
wollte sie die Zeit anhalten und mir die Erinnerung an die
Erlebnisse der vergangenen Tage in die Seele brennen. Das aber war
völlig überflüssig und zerrte zusätzlich an den sensiblen Bahnen,
die mir auch ohne ihr Zutun den Gehorsam verweigerten. Dennoch
starrte ich wie hypnotisiert durch das bullaugige Fenster, mitten
hinein in diese Glut, die tief unter mir alles mit Dürre überzog,
was schwer auf meiner Seele lastete.
"Möchten Sie, dass wir die Plätze wechseln?" eine merkwürdig
artikulierende Stimme drang an mein Ohr und schreckte mich aus
meinen Gedanken auf. Sie stammte von der Frau neben mir, die so
anheimelnd nach frisch gesteifter Wäsche und Kernseife roch. Schon
mehrere Male hatte mein Blick ihr Profil gestreift, wenn es sich,
wie bei einer beginnenden Mondfinsternis, zwischen mich und diese
Sonne zu schieben begann.
"Oh nein. Nein Danke", stammelte ich abwehrend und bemerkte
dennoch mit einem Anflug von Aufmerksamkeit eine freundliche Regung
in ihrem Gesicht, das sich mir zum ersten Mal in seiner ganzen
Breite zeigte. Wenn man es nach der Zahl der Furchen bewertete, die
das Leben ihm großzügig zugedacht hatte, mochte man es auf siebzig
Jahre schätzen, aber die Augen passten nicht in dieses Muster, sie
waren merkwürdig jung geblieben. Sie leuchteten aus den Höhlen, tief
und klar wie der Baikalsee, von dem ich vor wenigen Stunden Abschied
genommen hatte. Mir war, als lächelte sie mich an.
Asien, Sibirien, der Baikalsee - diese Wörter signalisierten
mir Abenteuer und haben meine Fantasie angeregt seit ich Bücher
lesen konnte, und irgendwann, auch davon war ich seit jeher fest
überzeugt gewesen, würden wir einander begegnen - das Land, der See
und ich. Inmitten der unendlichen Weiten wollte ich, das befahl mir
ein Kindheitstraum, das tauende Eis der Taiga unter den Füßen
knacken und die Wölfe in den tiefen Wäldern heulen hören. Ich wollte
auf einem der breiten Flüsse, auf dem Jenissei vielleicht, mit dem
Floß dahin gleiten und den Holzfällern bei der Arbeit zur Hand
gehen, und ich wollte mit den alten Mütterchen, die auf den Bildern
so liebe, gute, warme, verrunzelte Gesichter hatten, durch die
Sümpfe stampfen und mit klammen Fingern Moosbeeren zupfen. Ja, in
mir nagte ein tiefes Bedürfnis, bis zur Seele des Landes
vorzudringen, von der ich meinte, sie hause mit all ihrer Schwermut
und Mütterlichkeit in den Armen des Baikalsees und würde mich
willkommen heißen mit einem Kuss aus Tang und Schaum und Sturm und
Tränen.
"Nun setzen Sie sich schon ans Fenster, Kindchen. Ich muss da
nicht unbedingt sitzen", hörte ich die alte Frau mit ihrem so
unbeholfen anmutenden Akzent sagen. Sie stand ganz einfach auf,
berührte leicht meine Schultern und nötigte mich, den Platz mit ihr
zu tauschen. Die Berührung war mir auf eigenartige Weise angenehm,
und "Kindchen" hatte schon lange niemand zu mir gesagt. Weshalb
auch? - ich war jenseits der Dreißig und ein über die Maßen
selbständiger Mensch: weiblich, erfolgreich im Beruf, familiär fest
verknüpft mit Mann und Kind. Freilich war ich ein einsames Kind
gewesen, aber was sollte das jetzt noch und was in diesem Augenblick
...
Meinen Wunsch, nach Asien zu reisen, habe ich mir fast
panikartig erfüllt nach der Devise: entweder jetzt oder nie. Schon
seit geraumer Zeit lag etwas in der Luft, was Unglaubliches ahnen
ließ: Zeitenwende. Dieses Land im Umbruch - allein die Vorstellung
ließ mich erschauern und, getrieben von der Furcht, etwas Einmaliges
zu verpassen, Hals über Kopf den Koffer packen. Ich musste dorthin.
Ich brauchte eine unverfälschte Antwort auf die Frage: Wie werden
Menschen, die bislang am eigenen Leib nichts als Feudalabsolutismus
erfahren hatten, auf diese Chance - wenn es denn eine ist -
reagieren: ängstlich abwartend, freudig überrascht, hoffnungsvoll
zupackend?
In den russischen Großflugzeugen konnte man dem Geruch von
gekochtem Fleisch nicht entfliehen. Man musste ihn und nachfolgend
den Anblick der dargereichten blauweiß getönten Hühnerschenkel
hinnehmen und hungernd die aufkommende Übelkeit ertragen. Die alte
Frau neben mir schob mir ein Fläschchen zu. Beobachtete sie mich?
"Rosenöl", sagte sie, "von meiner Schwiegertochter aus Ulan-Ude.
Sie haben es selbst hergestellt. Riechen Sie. Es wird Ihnen gut
tun."
"Aus Ulan-Ude?" fragte ich leicht abwesend, denn ich war damit
beschäftigt, den lieblichen Duft zu inhalieren. "Sind Sie da zu
Hause?"
"Nein. Ich wohne in Sankt Petersburg", sagte sie und fügte
bedeutungsvoll hinzu: "Ich war das erste Mal dort und habe sie das
erste Mal gesehen - seit Jahrzehnten." Sie schwieg eine Weile, bevor
sie bekannte: "Ich habe vier Söhne."
Mir fiel erst jetzt auf, dass wir deutsch miteinander sprachen.
Ich könnte sie fragen, wo sie das gelernt hat - aber, selbst wenn es
mich interessierte, hatte ich ein Recht, tiefer in sie zu dringen?
Die Stationen meiner Reise waren: Taschkent, Frunse, Alma-Ata,
Irkutsk, Moskau. Von Anfang an war ich vom Kolorit der großen Städte
enttäuscht, zu sehr ähnelten sie einander, zu sehr waren sie geprägt
von einer Ära, die mit uniformem Protz ausstattete, was geeignet
schien, ihren Machtanspruch vor aller Welt zur Schau zu stellen, und
doch nichts anderes war als ein kollektiver Albtraum. Ich betastete
die überdimensionalen, in Stein gehauenen Helden mitleidig und stand
erschüttert vor der gähnenden Leere hinter den Schaufenstern des mir
Schulzeit lang gepriesenen Paradieses mit Namen Kommunismus.
Auf den Baumwollfeldern Usbekistans erfuhr ich die bittere
Wahrheit über jene Maschine, die den Pflückern auf so viel gelobte
Weise die Arbeit abgenommen hat, nämlich, dass sie nur pflücken
konnte, wenn zuvor die Blätter entfernt worden waren, und dass man
dazu die gleichen Entlaubungsmittel verwendete, die die Amerikaner
im Vietnamkrieg eingesetzt hatten. Und die Menschen, denen die
Arbeit erleichtert werden sollte? Was wurde aus ihnen? Die Menschen
starben zuhauf an einem heimtückischen Krebs. Man hatte ihnen
vorenthalten, wie gefährlich das Zeug war. Sogar die Kinder trugen
den Keim der Krankheit bereits in sich. Ich nahm eins der
zutraulichen Kleinen auf den Arm, versuchte zu scherzen, dachte
dabei an Tschernobyl, spürte den Kloß im Hals und die Feuchte in den
Augen und ein hilfloses Entsetzen, wie ich es nie zuvor gekannt
hatte. Das hier war kein Schauermärchen irgendeines Journalisten,
das war die Wirklichkeit.
"Sie kommen aus Deutschland - schönes, sauberes Land", stellte
die Frau fest: "Ost oder West?"
"Ost. Ich komme aus Ostdeutschland", antwortete ich zerstreut.
Tief unter mir im Lande Aitmatows lag die Sary-Ösek-Steppe, und
da, wo die schreckliche Sonne sich weigerte unterzugehen, wusste ich
den sterbenden Aralsee, dessen ausgedörrte Ufer nach den Wassern
lechzten, die zu den Baumwollfeldern Usbekistans umgeleitet wurden.
Dort irgendwo mochten sie noch immer stehen, Schneesturm-Edige, der
Steppenmensch, und sein gescheites Kamel Karanar, fassungslos und
durstig, ohne Hoffnung: Wenn der See stirbt, dieser wunderbare
Lebensspender, was nutzt es da noch, über das Leben von Mensch und
Tier nachzusinnen?
"Nehmen Sie, nehmen Sie!" forderte die alte Frau mich auf und
reichte mir ein großes, rot-weiß kariertes Schnupftuch. Konnte sie
Gedanken lesen? In mir war nichts außer Trauer und Ergriffenheit,
und es bedurfte einer großen Anstrengung, nicht vor ihr in Tränen
auszubrechen.
"Der Älteste lebt auf Kamtschatka. Er ist wohlauf", fuhr sie
fort zu erzählen. "Der Jüngste, Aleksander, der wohnt in Osch.
Boris, der Zweite, ist nicht so weit weg, nur in Kasan. In Ulan-Ude
bei Oleg, da war ich gerade."
Als ich mich bückte, um das heruntergefallene Schnupftuch
aufzuheben, sah ich , dass ihre geschwollenen Füße in Hauspantoffeln
steckten, die vorn in der Mitte mit einem lächerlichen Bommel
verziert waren. Sollte diese Frau in diesen erbärmlichen Schuhen
Tausende von Kilometern gereist sein, um ihre Kinder zu besuchen?
Ich blickte ungläubig zu ihr auf.
"Ja, ja, so spielt das Leben", sagte sie und legte mit einer
Geste, als wollte sie den Spuk von mir nehmen, ihre Hand auf die
meine.
In was für eine Situation war ich da geraten? Bisher hatte ich
keine Probleme damit, meine Gefühle vor anderen zu verbergen. Und
Trost - nicht an meine Adresse. Wenn hier jemand getröstet werden
sollte, dann dieses Land mit seinen beladenen Menschen. Die Sonne
ließ nicht ab, mich zu blenden. Die Hand der Frau war warm und rau
und sanft.
Das verwegene Gesicht des jungen kirgisischen Reiseführers
tauchte vor mir auf. Ihn habe ich, nachdem er Schlips und Kragen
abgelegt hatte, hoch zu Pferd durch die Täler des Tienschan jagen
und seine Augen Funken sprühen sehen und begriffen, dass es keiner
Ideologie je gelingen wird, das Wesen des Menschen von Grund auf zu
verändern. Von ihm erfuhr ich, dass er, um seine Muttersprache zu
lernen, einen Fremdsprachenkurs belegen musste. In den Schulen wurde
nur Russisch gesprochen. Wieso das? Weil er die Völker miteinander
vermischen wollte. Russisch war eine Art Esperanto. Wer ist er?
Stalin. Was bezweckte er damit? Der Kirgise zog den Kopf tief in die
Schultern und ballte die Hände zur Faust: Was schon, er wollte
unsere Kultur zerstören und damit unsere Identität auslöschen.
"Ganz allein unterwegs?" Wieder war es ihre Stimme, die mich
zurückholte.
Ich nickte nur. Gedanken beladen, wie ich war, fiel es mir
schwer zu sprechen. Auch hatte ich das Gefühl, als würde ihre Hand
die meine streicheln. Ich wehrte mich nicht dagegen.
Herrlicher Baikal, du heiliges Meer ... Natur pur. Natur
gehorcht ewigen Gesetzen und enttäuscht nie. Nur die Menschen tragen
das Unberechenbare in sich. Gorbatschow, so beschwor ich die
Einheimischen, Gorbatschow, der muss euch doch etwas bedeuten, sein
Name steht dafür, dass sich vieles ändern wird. Man sah mich
verständnislos, fast mitleidig an. Gorbatschow? Gute Frau, heute er,
morgen ein anderer, was soll's ... Sie zuckten mit den Achseln. Ich
weiß jetzt, was Resignation ist. Ich ahne im Ansatz, was auf die
Menschen dieses Land zukommt. Hier bricht eine Welt zusammen, aber
von dem, was danach kommen soll, von dem, dem man entgegentaumelt,
von dem hat kaum jemand eine wirkliche Vorstellung, geschweige denn
einen Plan, einen Wegweiser zumindest, der eine Linie vorgibt, in
eine Richtung weist ...
"Aber, aber. Was ist denn so schlimm?" die Stimme der Frau
klang jetzt besorgt beruhigend, wie die Glucklaute einer Henne, die
sich Mühe gibt, ihren Nachwuchs bei Fuß zu halten.
Plötzlich empfand ich ihre Fülle wie einen schützenden Hafen,
in den ich flüchten konnte. Ich wusste oder bildete es mir zumindest
ein, sie würde den Grund meiner Betrübnis erahnen. Sie hatte Anteil
an den Leiden dieses riesigen Landes und war daran nicht zerbrochen.
Sie hatte vier Söhne geboren, die ein mir unbekanntes Schicksal in
alle Himmelsrichtungen auseinander getrieben hatte. "Warum
lebt Ihre Familie so weit voneinander entfernt?", wagte ich zaghaft
zu fragen.
"Warum? Es war eine schlimme Zeit. Mein Mann kam bei Stalin ums
Leben. Die Kinder wurden mir weggenommen und in fremde Familien
gegeben."
"Haben Sie nicht gewusst, wo sie untergebracht waren?"
"Nein, es war mir verboten, danach zu fragen. Erst jetzt unter
Gorbatschow ..."
"Erst jetzt", unterbrach ich sie ahnungsvoll. Also doch,
Gorbatschow - ein Silberstreifen am Horizont.
"Erst jetzt habe ich erfahren, dass sie leben und wo sie sich
aufhalten. Nun dürfen wir Kontakt miteinander haben. Bald werde ich
auch die anderen wiedersehen und ihre Familien kennen lernen. Es ist
eine große Freude."
Sie sprach tatsächlich von Freude. Von Freude, nicht von
Schmerz, nicht von Not, nicht von Entbehrung! Das gab mir den Rest. Ich konnte den Strom
meiner Tränen nicht mehr stoppen. Alles, was ich auf dieser Reise
erlebt, was sich angestaut hatte, brach sich Bahn. In diesem Moment
war es mir sehr nahe, dieses mütterliche Antlitz neben mir voller Güte,
Wärme und Verstehen. Vier Söhne hatten ihre Mutter wieder, ich hatte
nie eine.
"Wo haben Sie so gut Deutsch gelernt?" Diese Frage bedurfte
einer Antwort, denn es grenzte schier ans Wunderbare, wie wir,
irgendwo am Himmel zwischen Irkutsk und Moskau, miteinander sprechen
konnten als hätte es den Turmbau zu Babel nie gegeben.
"Ich stamme aus Deutschland", sagte sie schlicht. "Haben Sie
das nicht bemerkt?"
Ich hatte es nicht bemerkt. Es war auch nebensächlich. Ich
lehnte meinen Kopf für Sekunden an ihre Schulter, und während das
Pendel meines inneres Gleichgewichts die Ruhestellung suchte, war
ich mir sicher, dass ein Mensch wie sie locker ein fünftes Kind
verkraften würde - zur Abwechslung eine Tochter. Die Entfernung
zwischen Leipzig und Sankt Petersburg, sie schien mir in diesem
Augenblick nicht der Rede wert.
Oft denke ich zurück an jenen 9. Mai 1988 hoch über den Wolken, an
dem es nicht Abend werden wollte.
Leipzig, 1. September 1999
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