| home |

 

Die Versuchung oder Feddersens letztes Opfer

Es war ein grauer Nachmittag im November, die Wolken hingen schwer und dickbäuchig über den Dächern, es nieselte und das welke Laub auf den Gehwegen war zu einer schlierigen Masse verklumpt, die nach Verwesung roch. Feddersen stand an der Haltestelle, vertrat sich die Beine und rieb immer wieder seine Absätze an der Bordsteinkante, um die fauligen Blätter abzustreifen. Er schlug den Kragen hoch, ihn fröstelte.
     Im Bus saß er zusammengekauert und hing Gedanken nach, die so düster waren wie dieser Novemberdonnerstag heute. "Nun springen sie wieder", hatte sein Therapeut plaudernderweise zu ihm gesagt und mit weit ausladender Geste gegen den verhangenen Himmel gewiesen. "Im November tun das die meisten."
     Feddersen dachte seit Tagen darüber nach, ob es nicht das Beste für ihn wäre, wenn er es endlich auch täte und überlegte, ob nicht heute ein passender Tag dafür sei.
     Seit Jahren wurde sein Lebensrhythmus von Medikamenten bestimmt, lief monoton nach einer Uhr ab, die andere für ihn stellten. Früh stand er auf, schluckte wie immer eine von den verhassten blassrosa Pillen, fuhr mit dem Bus ins Büro, wo er einer bescheidenen Arbeit nachging, aß zwischendurch eine Kleinigkeit, führ wieder nach Hause, lief die zweihundert Schritte bis zu seiner Wohnung in der Leinestraße zu Fuß, kochte sich ein Süppchen, wozu er einen Brühwürfel verwendete, säuberte hinterher die wenigen Gegenstände, die er verunreinigt hatte, und schaltete den Fernseher an, um ihn genau 22 Uhr wieder auszuschalten, weil dann seine Nachtruhe begann, ausgelöst durch eine hellgrüne Pille, die er exakt 21:30 Uhr zu schlucken verpflichtet war. Von den Menschen hielt er sich fern; selten und auch nur, wenn es sich nicht vermeiden ließ, wechselte er ein paar belanglose Worte mit ihnen, er war an Einsamkeit gewöhnt, sie beunruhigte ihn nicht.
     "Scheußliches Wetter heute", sagte soeben Nickmann, der Busfahrer zu ihm. "Da mag man keinen Hund vor die Tür jagen." Feddersen stimmte ihm mit einen Kopfnicken zu. Außer ihnen war niemand im Bus.
     "Es wird noch schlimmer kommen", mutmaßte Feddersen, "denn um diese Zeit springen sie wieder."
     "Wer springt?" fragte Nickmann verwundert, hatte aber keine Zeit, der Sache auf den Grund zu gehen, weil er beinahe eine Haltestelle überfahren hätte und scharf auf die Bremse treten musste. "Verdammter Mist, keiner da." Er wollte gerade wieder losfahren, da tauchte ein junger Mann in seinem Blickfeld auf, der lebhaft gestikulierend auf sich aufmerksam machte. Nickmann erinnerte sich an den Hund, wartete und ließ ihn einsteigen. Komischer Kauz, der Junge, dachte er und verfolgte dessen tänzelnde Schritte mit leichtem Kopfschütteln.
    Der Junge steuerte direkt auf Feddersen zu, grinste und ließ sich neben ihm aufs Polster fallen.
     "Ist doch frei der Platz hier?" fragte er mit einem herausfordernden Blick auf Feddersen, den man hätte auch frech nennen können.
     "Der ganze Bus ist frei",  antwortete Feddersen peinlich berührt und rückte von ihm ab. Seit einigen Tagen zog der Jüngling die gleiche Schau ab. Feddersen entging nicht, dass er es auf ihn abgesehen hatte. Er hatte keine Ahnung, woher die seltsame Gestalt kam und wohin sie verschwand. Zuerst widerwillig, dann mit wachsendem Interesse glitt sein Blick über das schlanke, geschmeidige Äußere und verweilte irritiert in der Mitte des von hautengen Kleidungsstücken umspannten Körpers. Tief in Feddersen, an jenem Ort, den die blassrosa Pille unter Verschluss hielt, regte sich etwas Bedrohliches. Er lauschte mit einem gewissen Verzücken in sich hinein. Was er da verspürte - es war wie ein dumpfes Grollen im Bauch der Erde, das nur feinsinnige Seismografen zu orten vermögen, ausgelöst durch einen ruhelos in der Tiefe vorhandenen Schlot, prall gefüllt mit Feuer und Schwefel, der gegen meterdicke Kerkermauern anrannte und sich nach Freiheit heiser schrie.
     "Ist Ihnen nicht gut? Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein?" fragte das Zauberwesen mit verführerischem Lächeln und schulmädchenhaftem Lidschlag, und Feddersen hätte schwören können, dass es ihm mit einer weichen, ja liebevollen Geste über den Handrücken strich.
     Feddersen wehrte ab. Doch sein Zurückschnellen war nur noch Fassade, bedeutungslos wie das Vibrieren einer soeben abgestoßenen Schlangenhaut. Sein Hirn schüttete jenes ihm ureigene Gemisch aus, das die blassrosafarbene Barriere überschwemmte und ihm befahl, morgen und übermorgen und überhaupt nie mehr diese Pillen zu schlucken und das Springen auf irgendwann später - danach - zu verschieben.


 
 

Copyright © by www.res-life.de

nach oben

| Prosa |