Leipzig, Nicolaikirche, Winter 2000
Eine Wendegeschichte? Nein und Ja. Nein, denn seit
der Wende sind etliche Jahre ins Land
gegangen. Ja, weil ich mir ziemlich sicher bin, die
Situation wäre vor der Wende nicht vorstellbar
gewesen für einen Leipziger oder einen Hallenser
oder einen Schweriner. Wir Ostdeutschen waren
auf manche Begleiterscheinung der
Wohlstandsgesellschaft wie Konkurrenzkampf, Firmenpleiten,
Arbeitsplatzverlust, gar Obdachlosigkeit nur
unzureichend vorbereitet.
Das Geschehen, das sich nachhaltig in meinem
Gedächtnis eingegraben hat, hat sich in Leipzig
zugetragen, auf historischem Boden, keine zehn
Schritte vom Haupteingang der Nicolaikirche
entfernt.
Der Mensch, der in dieser Geschichte die Hauptrolle
spielt, hätte dem scheinbaren Alter nach
Werner, Günther, Helmut, Paul oder sonst wie heißen
mögen. Ich habe beschlossen, ihn kurz und
bündig Paul zu nennen. Sein Alter war schwer zu
schätzen. Auf jeden Fall war er vom halbwegs
abgesicherten Rentenalter Meilen entfernt und vom
Leben auf der Straße gezeichnet. Letzteres
wunderte mich einen Augenblick, und dass ich auf ihn
zu gegangen bin und ihn angesprochen habe,
hatte weniger mit ihm und seinem Äußeren zu tun als
vielmehr mit den Blumen, die er im Arm hielt.
Paul stand also unweit der Nicolaikirche, hatte eine
zerschlissene Ledertasche zwischen die Beine
geklemmt, die er sorgsam zu hüten schien, und vor
seiner Brust flammte die geballte Pracht einer
Vielzahl langstieliger, dunkelroter Rosen. Auf eine
dieser Rosen hatte ich es abgesehen.
Bereits am Morgen, etwa gegen neun Uhr, als ich
eiligen Schrittes quer durch die Innenstadt
hastete, fielen mir die hübschen, jungen Mädchen
auf, die an Passanten Rosen verteilten. Natürlich
hätten sie auch mir eine überreicht, aber ich hatte
einige Behördengänge zu erledigen, und es schien
mir unangebracht, solch eine empfindliche Blume über
Stunden mit mir herum zu tragen. Wie schnell
konnte die Blüte brechen oder die ganze Schönheit
dahin welken. Und außerdem, es waren da so
unendlich viele Rosen, die reichten mit Sicherheit
für alle. Deshalb war es sinnvoll, die Rose erst
nach Erledigung meiner Aufgaben in Empfang zu nehmen
und so rasch als möglich in eine Vase zu
stellen.
Es war gegen Mittag, als ich wieder in die
Innenstadt zurückkehrte. Zu meinem Erstaunen hatte
sich das Bild erheblich verändert. Die vielen
hübschen Rosenmädchen waren verschwunden, jedoch
huschten zahlreiche Rosen an mir vorbei. Sie ragten
einzeln, zu zweit, zu dritt, zu fünft aus
Einkaufsbeuteln, Schultertaschen und Rucksäcken
heraus. Mit anderen Worten, viele Leute waren
ihrem Hamstertrieb erlegen, die wenigsten hatten
sich mit einem Exemplar begnügt. Ich war mal
wieder zu spät gekommen, und das stimmte mich ein
wenig traurig. Mein Blick fiel auf einen
weißhaarigen Mann, der seinen gefüllten Beutel mit
zufriedener Miene jemandem entgegen hielt.
Eine füllige Dame mit blonden Strähnchen in den
Haaren strebte ihm entgegen, in der erhobenen
Hand eine Rose, die sie wie eine Trophäe hin und her
schwenkte. Wie viele Rosen mochten die
beiden wohl insgesamt ergattert haben? Schwer abzuschätzen. Aber
- woher hatte sie die Rose?
Mein Blick verfolgte die Linie vom Beutel haltenden Mann
über seine emsige Frau hinweg bis zu ihrem
Endpunkt, und da stand er: Paul.
Ha, Glück gehabt, eine Rose ist mir sicher, dachte
ich und ging zu Paul hinüber. Da ich in Eile
war und er mich nicht sofort bemerkte, sprach ich
ihn an.
"Darf ich auch eine Rose haben?"
Er zupfte sofort an einer Rose herum, die mir aber
nicht gefiel, weil ihr Köpfchen bereits müde
herunter hing.
"Darf ich die haben?" fragte ich und zeigte auf ein
besonders kräftiges Exemplar. Er nahm meinen
Wunsch ernst und nickte zustimmend.
Beim ungelenken Versuch, die Rose aus dem Strauß
heraus zu ziehen, glitten ihm einige aus dem
Arm und fielen zu Boden. Ich bückte mich, um sie
aufzuheben. Dabei bemerkte ich, dass sich in der
verbeulten Ledertasche zu seinen Füßen noch ein
reichlicher Vorrat befand. Um die Zeit zu
überbrücken, suchte ich nach ein paar belanglosen
Worten.
"So viele Blumen!" sagte ich anerkennend. "Was ist
denn heute los?"
Er reagierte mit sichtbarem Unverständnis.
Wahrscheinlich eine dumme Frage von mir.
"Heute ist doch Valentinstag", antwortete er
verschämt, ohne mir den Kopf zuzuwenden.
"Ach so", sagte ich, "das erklärt natürlich alles."
An den Valentinstag hatte ich nicht gedacht,
obwohl die vielen roten Herzchen und rot verpackten
Geschenke all überall in den Auslagen Hinweis
genug waren.
Der Mann vor mir, Paul, sah allerdings nicht so aus,
als hätte ihn jemand mit dem Verteilen von
Valentinspräsenten beauftragt. Zudem roch es in
seiner Nähe sehr unangenehm nach kaltem
Zigarettenrauch und billigem Schnaps. Mein Blick
glitt über seine schmächtige Gestalt, die schäbigen
Klamotten, viel zu dünn für die Jahreszeit.
Plötzlich trafen sich unsere Blicke. Was für glanzlose,
wässerige Augen er hatte und wie gelb sie
schimmerten. Mir schauderte.
"Ich bin obdachlos", nuschelte er mit leiser Stimme.
Und im Bemühen, sich noch verständlicher
auszudrücken, fügte er hinzu: "Und ich bin Bettler."
Was sollte ich dazu sagen?
"Ich arbeite schon ein paar Jahre in der Stadt",
fuhr Paul fort. "Die Leipziger waren immer gut zu
mir. Sie haben mich nicht hängen lassen."
"Das ist aber nett von den Leipzigern", plapperte
ich und kramte bereits nach Kleingeld in meiner
Tasche herum.
"Nein, nein", wehrte Paul ab, dem diese Geste gewiss
sehr vertraut war. "Heute nicht, heute ist
Valentinstag."
"Ja, aber..." Hatte ich richtig gehört? Allen
Gerüchen zum Trotz, ich beugte mich näher zu ihm
hin. "Ich verstehe nicht ganz."
"Heute ist Valentinstag", wiederholte er
bedeutungsvoll und dabei huschte ein kleines, müdes,
aber verschmitztes Lächeln über sein zerknittertes
Gesicht. "Heute will ich mich bei den Leipzigern
bedanken. Heute nehme ich nichts, heute bin ich der,
der gibt."
Bei aller Betroffenheit, die seine Worte in mir
auslösten, stellte sich mir sofort eine neue Frage.
Wie, um alles in der Welt, wie war einer wie Paul zu
den vielen herrlichen Rosen gekommen? Die
Frage muss mir deutlich im Gesicht gestanden haben.
Ich errötete leicht, Paul hingegen lächelte
weiter vor sich hin. Er hatte beschlossen, mir sein
Geheimnis anzuvertrauen.
Bei seinem stockend vorgetragenen Bericht begannen
mir die Augen feucht und die Knie weich zu
werden. Und wie von Geisterhand geführt, strich
meine Hand mit scheuer Zärtlichkeit über den
steifen, fleckigen Stoff, der seinen dünnen Arm
bedeckte. Damit war aber auch das Ende des
Augenblicks unserer Gemeinsamkeit angebrochen.
"Alles Gute", hörte ich mich sagen. Dann eilte ich
davon. Als ich stehen blieb und mich nach ihm
umsah, stand Paul noch immer am selben Fleck. Um ihn
herum hatten sich mehrere Passanten
angesammelt, die nun eine richtige kleine
Wartegemeinschaft bildeten. An ihrem Kopf aber stand
Paul und verteilte seine Rosen. Er war der
wichtigste Mensch in dieser Gruppe. Er, Paul, er war der
Geber.
In der Schlange entdeckte ich den Mann mit den
weißen Haaren, einige Meter von ihm entfernt
seine blond gesträhnte Frau.
Als ich mit meiner purpurroten Rose den Bahnhof
erreicht hatte, kämpfte ich noch immer mit den
Tränen. Warum? Einfach so, wegen Paul und allem, was
auf dieser Welt irgendwie mit Paul zu tun
hat und nicht zu sein brauchte, wenn wir alle etwas
umsichtiger und gescheiter handeln würden.
Ach ja, sicher interessiert noch, wie Paul zu den
vielen Rosen gekommen ist. Ganz einfach, er hat
zwei Stunden lang das getan, was viele biedere
Hausfrauen und -männer auch getan haben, er hat
gehamstert. Um es jedoch mit Pauls Worten
auszudrücken, er hat hart gearbeitet und zwar mit
System und wie einer, der weiß, was er will und warum er es
will. Auf dem Weg von Blumenmädchen
zu Blumenmädchen hat er die Innenstadt mehrfach
umkreist und Rose für Rose in seiner Tasche
versenkt. Dann hat er sich vergewissert, dass der
Vorrat der anderen aufgebraucht war. Und erst, als
alle Rosen verteilt waren und keine Chance auf
Nachschub bestand, war seine große Stunde
angebrochen, die Stunde für Paul, den Geber. Ort und
Zeitpunkt dafür hat er sehr clever ausgewählt.
Und vielleicht hieß er ja tatsächlich Paul...
Text veröffentlicht im Forum "Aktives
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