Das
Geschehnis, von dem ich berichten möchte, hat sich im Jahre 1973
zugetragen. Gleich zu Beginn möchte ich versichern, dass ich daran
nichts beschönigt und nichts hinzugefügt habe. Was ich beschreibe,
ist ein Stück Alltag aus einem verblichenen Staatsgebilde, das sich
protzig Deutsche Demokratische Republik nannte und von Demokratie
leider so gut wie nichts verstand.
Vor knapp einem halben Jahr
war mein Großonkel aus Thüringen im Alter von 78 Jahren gestorben.
Da es keine näheren Verwandten gab, hatten wir uns auf Bitten seiner
ebenfalls betagten Frau bereit erklärt, die Urne bei uns in Leipzig
beizusetzen und das Grab zu pflegen. Was nun den wenig spektakulären
Vorgang der Urnenüberführung zum erregenden Mittelpunkt unseres
Lebens machte, war, dass die Urne trotz wiederholter Vorsprache und
Eingaben bei den Behörden nicht in nach Leipzig ankam.
Etwa zur gleichen Zeit als mein Großonkel starb, hatten wir uns
um eine Ferienreise in den uns möglichen sonnigen Süden, sprich: die
bulgarische Schwarzmeerküste, bemüht. Um in den Genuss einer dieser
heiß begehrten, aber stark limitierten Reisen zu gelangen, hatten
wir in eisiger Kälte eine Nacht auf Campinghockern vor dem Reisebüro
in enger Wartegemeinschaft mit Gleichgesinnten zugebracht. Unsere
Geduld wurde belohnt. Wir ergatterten eine 14tägige Reise nach Varna
für meinen Mann, mich und unsere vierjährige Tochter zum üblichen
Preis von ca. 1300 Mark pro Person.
Je näher der Reisetermin rückte, um so belastender wurde für uns
die Tatsache, dass die Urne mit der Asche meines Großonkels nicht zur
Beisetzung frei gegeben wurde. Für uns bestand kein Zweifel daran,
dass es sich nicht um eine Nachlässigkeit, sondern um einen
Willkürakt seitens der Behörden handelte, denn mein Großonkel war
dem Staat zu Lebzeiten ein Dorn im Auge gewesen. Wegen seiner
Zugehörigkeit zur Glaubensgemeinschaft der Zeugen Jehovas war er von
den kommunistischen Machthabern verfolgt, verhaftet und im Jahre
1950 ohne Verfahren wider alle Regeln der Gerechtigkeit wegen
angeblicher Staats- und Boykotthetze zu 15 Jahren Zuchthaus
verurteilt worden und das, nachdem dieser Mensch bereits unter
Hitler acht Jahre im Konzentrationslager unter grausamen Bedingungen
zugebracht hatte. Unter den Nationalsozialisten wie unter den
Kommunisten bestand sein einziges Vergehen darin, dass er standhaft
und jedweder Gewalt zum Trotz darauf beharrte, die Gebote seines
Gottes höher zu achten als die der jeweiligen Diktatoren.
Wir gehörten der Glaubensgemeinschaft der Zeugen Jehovas zu
keiner Zeit an, achteten aber deren Gedankengut und immer, wenn wir
darüber nachdachten, was diesen Menschen, die im sprichwörtlichen
Sinne keiner Fliege ein Leid antun könnten, widerfahren war,
sträubten sich uns die Haare im Zorn. So auch jetzt. Das Warten
brachte unser Fass zum Überlaufen, es musste etwas geschehen, ich
musste etwas unternehmen, musste mich gegen die unsinnige Schikane zur
Wehr setzen, die gegen die sterblichen Überreste - man bedenke:
Asche! - meines Großonkels ausgeübt wurde, eines Mannes, dem
Jahrzehnte seines Lebens Unrecht und sehr viel Leid zugefügt worden
waren.
So in Rage geraten, gelang es mir, eine Audienz beim
Bürgermeister der Stadt zu erwirken, in der mein Großonkel bis zu
seinem Tode gelebt hatte. Wider Erwarten wurde ich freundlich nach
meinem Anliegen gefragt, und als ich an der Wand auch noch einen
Druck von Feininger entdeckte - den Dom von Halle - wurde ich ruhiger
und mutiger. Feininger war nicht unbedingt der Maler, der in der
Gunst der SED-Leute stand, er war zwar nicht verboten, aber auch
nicht erwünscht. Wer also als Bürgermeister einen Feininger im
Amtszimmer hängen hatte, der musste auch irgendwie ein vernünftiger
Mensch sein, mit dem musste man reden können. Der Feininger an der
Wand war ein gutes Omen. Also legte ich los und schilderte dem
Bürgermeister mein Anliegen mit eindringlichen Worten. Ich vergaß
auch nicht zu bemerken, wie sehr die Zeit drängte und dass ich die
Asche meines Großonkels noch vor unserem Urlaub unter der Erde
wissen wollte. Als der Bürgermeister mir versprach, sich der
Angelegenheit anzunehmen, schien er fast bewegt zu sein. Immerhin
reichte er mir zum Abschied wohlwollend die Hand und bemerkte, dass
ihm junge energische Frauen sehr sympathisch seien. Das alles
versetzte mich in eine gewisse Hochstimmung, die noch anhielt, als
ich wieder zu Hause in Leipzig war.
Bereits zwei Woche später stand uns die Urne in Leipzig zur
Verfügung, und wir durften sie während einer kleinen Feierstunde der
Erde übergeben. Kurz darauf traf die erfreuliche Nachricht ein: die
Bulgarienreise war genehmigt. Ich lief sofort los, um die Rechnung
zu begleichen. Zu meinem Erstaunen überreichte man mir nur
Unterlagen für zwei Personen. Noch völlig arglos machte ich die
Angestellte des Reisebüros auf dieses Versehen aufmerksam. Doch mein
Gegenüber teilte mir ziemlich kurz angebunden mit, das sei so schon
in Ordnung, meinem Mann und meiner Tochter sei ein Visum erteilt
worden, mir jedoch nicht. Auf meine erstaunte Frage nach dem Warum,
erklärte sie mir, dass gewichtige Gründe vorliegen müssten, über
Einzelheiten könne sie aber keine Auskunft erteilen. Sie forderte
mich auf, rasch zu entscheiden, ob mein Mann und meine Tochter die
Reise auch ohne mich antreten würden: ja oder nein. Da sie nicht
bereit war, mir für weitere Nachforschungen Aufschub zu gewähren,
blieb mir nichts anderes übrig, als die Reise zurück zu geben. Ich wusste, ohne mich würden mein Mann und meine Tochter nicht nach
Bulgarien fliegen wollen. Uns blieb ja immerhin die Möglichkeit,
gemeinsam mit dem Zelt in Richtung Ostsee aufzubrechen oder
wenigstens an die Mecklenburger Seenplatte. Sollten sie mir mit
ihren ewigen Gängeleien doch den Buckel runter rutschen.
Doch die Ungewissheit wurmte mich. Was lag gegen mich vor? Ich war
mir keiner Schuld bewusst. Hatte mich irgendjemand angeschwärzt, gar
verleumdet? Oder lag doch nur ein Irrtum vor? Oder war die ganze
Sache im Zusammenhang mit der Beerdigung meines Großonkels zu sehen?
Vielleicht, weil der Großonkel Mitglied bei den verbotenen
Zeugen Jehovas gewesen war? Unsinn! Der Großonkel hatte bereits im
Zuchthaus einen Schlaganfall erlitten, an dessen Folge sein
Sprachvermögen gestört war. Er war seit Jahren ans Bett gefesselt
gewesen - pflegebedürftig, hilflos und geistig geschwächt...
"Ich gehe zur Staatssicherheit, ich lasse das nicht auf mir
sitzen", erklärte ich meinem Mann. Wohl wissend, dass mich nichts von
meinem Vorhaben abbringen würde, mahnte er zur Vorsicht und riet von
unbedachtem Handeln ab. Doch längst hatte der Stier von mir Besitz
ergriffen, der unbedingt mit dem Kopf durch die Wand wollte. Egal,
was passiert, redete ich mir trotzig ein, ich will Klarheit und
Gerechtigkeit, und die kann ich nur bekommen, wenn ich bis in die
Höhle des Löwen vorstoße. Kurz entschlossen machte ich mich auf den
Weg in die Dimitroffstraße zum Hauptgebäude der Staatssicherheit in
Leipzig.
Bevor man mich endlich aufforderte, ein Dienstzimmer zu betreten,
hatte ich gute zwei Stunden auf einem schlecht beleuchteten Korridor
zugebracht. Dort hatte ich Zeit, die Umgebung auf mich wirken zu
lassen. Das Innere des Gebäudes zu beschreiben wäre müßig. Alles war
trist, öde, kahl und schäbig. Eigentlich konnten einem die Leute
leid tun, die hier ihren Tag verbringen mussten. Einige Male war ein
Bediensteter aufgetaucht, der mich im Vorbeigehen gemustert hatte.
Mein Anliegen war ihm mit Sicherheit bekannt, ich hatte es bereits
beim Betreten des Hauses detailliert schildern müssen. Jetzt, im
Dienstzimmer, saß ich zwei Männern gegenüber, denen ich die Sache
von dem verweigerten Visum noch einmal haarklein vortragen durfte.
Dabei sah ich in regungslose Gesichter. Und wie befürchtet, ich bekam ich
keine schlüssige Antwort, die mich weiter brachte. Der Ältere der beiden
ergriff schließlich das Wort und sagte monoton: "Sie können sicher
sein, es liegt kein Irrtum vor. Das Visum wurde Ihnen aus Gründen,
die wir nicht näher erklären werden, verweigert. Bitte verlassen Sie
jetzt den Raum."
"Das reicht mir nicht als Antwort", hörte ich mich sagen. "Ich
bin mir keiner Schuld bewusst, und ich werde hier erst weggehen, wenn
ich weiß, was der Grund dafür ist, warum ich nicht gemeinsam mit
meiner Familie in Bulgarien Urlaub machen darf." Schweigen. Die
dachten nicht im Traum daran, mir eine Antwort zu geben. Das
steigerte meinen Widerpart. "Ich kann mir schon denken, woran es
liegt", bluffte ich und ging zielstrebig meiner Vermutung nach. "Es
ist wegen meines Großonkels, der zu Lebzeiten bei den Zeugen Jehovas
aktiv war und den wir hier in Leipzig beerdigt haben." Jetzt zeigte
der Jüngere von beiden eine Regung, denn er zog eine Augenbraue
hoch, und der Ältere sah sich zu der stereotypen Antwort genötigt:
"Darüber brauchen wir Ihnen keine Auskunft erteilen."
"Also habe ich Recht", folgerte ich. "Es ist wegen eines armen,
alten Mannes, mit dem ich nicht einmal blutsverwandt bin. Das ist
Sippenhaft, das hatten wir schon einmal. Mein Mann und ich haben
weiter nichts getan, als diesen Menschen beerdigt. Einer musste das
doch schließlich tun oder? Aber wenn Sie darin eine Handlung sehen,
die Sie veranlasst, mir das Visum für die Ausreise zu verweigern,
gut, dann machen wir das Ganze einfach rückgängig." Gespannte
Aufmerksamkeit mir gegenüber. Nun konnte ich nicht mehr zurück und
trumpfte wütend auf: "Ich schlage Ihnen einen Kuhhandel vor: Urne
gegen Visum. Wenn ich mein Visum nicht bekomme, bin ich morgen
wieder da und stelle Ihnen die ausgebuddelte Urne hier auf den
Schreibtisch. Dann machen Sie doch meinetwegen damit, was Sie
wollen."
Nach geraumer Weile kam Bewegung in die Szene. Der Ältere sagte:
"Warten Sie mal", und verließ den Raum. Der Jüngere blieb sitzen.
Ich hatte jetzt Zeit festzustellen, dass er eigentlich ein ganz
hübscher Bursche war. Ich sah ihm darum mit gespannter
Aufmerksamkeit in die Augen. Er guckte zurück und sagte huldvoll:
"Wir werden den Fall noch einmal prüfen."
Als der Ältere wieder herein kam, umspielte die Spur eines
Lächelns seine schmalen Lippen. "Wir haben entschieden, dass Sie die
Reise antreten dürfen", verkündete er.
"Das ist ein bisschen spät", muckte ich auf. "Inzwischen habe ich
die Reise zurück gegeben. Wo bekomme ich nun eine neue Reise her?"
"Gehen Sie zum Reisebüro, man wird Sie bedienen."
Für den Weg von der Dimitroffstraße bis zum Reisebüro am Markt
benötigte ich zu Fuß etwa zehn Minuten. Zu meinem Erstaunen wurde
ich bereits erwartet. Nach beinahe herzlicher Begrüßung
unterbreitete man mir folgendes Angebot: 21 Tage Varna für einen
Preis von 740 Mark pro Person, für die kleine Tochter jedoch nur 520
Mark. Da konnte ich nicht nein sagen, ganz im Gegenteil, ich griff
begeistert zu und war mit dem Erfolg meines Einsatzes für die
Gerechtigkeit höchst zufrieden.
In Varna angekommen, steigerte sich unsere freudige Stimmung von
Stunde zu Stunde. Um es mit wenigen Worten zu sagen: wir waren
glücklich. Und so dachten wir uns auch nichts dabei, als die
Reisegruppe zu einer Beratung zusammen gerufen wurde. Vielleicht ein
Glas Sekt zur Begrüßung, derlei war nicht unüblich...
Es blieb nicht bei dem Glas Sekt. Es ging sehr schnell zur Sache,
und es brauchte nicht allzu lange, bis es uns wie Schuppen von den
Augen fiel. Großer Gott, wo waren wir hingeraten? Und was für eine
Frechheit, gerade uns für diesen Irrsinn einzuspannen! Die
Ferienaufgabe, die man uns zugedacht hatte, lautete: Beobachten Sie
ostdeutsche Urlauber, die Hotels betreten, die vorrangig von
westdeutschen Urlaubern belegt sind, um dort Zeitungen und Journale
zum eigenen Bedarf zu entwenden. Versuchen Sie, Namen oder
Hotelzimmer dieser Urlauber zu erfragen und setzen Sie Ihre
Reiseleitung davon in Kenntnis.
Wir sind nie dahinter gekommen, ob man uns als Mitglieder dieser
besonderen Reisegruppe automatisch für Stasileute gehalten hat oder
ob wir mit dem Köder Reise erst geworben werden sollten. Und wenn
letzteres: wir hätten
das Ansinnen mit klaren Worten zurück gewiesen.
Den Rest der Reise verbrachten wir unbehelligt.
Auch danach blieben wir von Belästigungen verschont. Für uns steht fest, jeder, der mit
der Firma irgendwann und irgendwie in Berührung gekommen ist, hatte
die Möglichkeit, sich zu verweigern. Wer sich je zur Mitarbeit hat
hinreißen lassen, hat es um seines kleinen, schäbigen Vorteils
willen getan, alle anderen Erklärungen sind billige Ausreden, um im
Nachhinein ein erbärmliches menschliches Versagen zu kaschieren.
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