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Im
Schuljahr 1953/54 war ich dreizehn Jahre alt und in der 8. Klasse.
Ich bin immer gern in die Schule gegangen, gehörte jedoch zu denen,
die allen möglichen (damals sicher harmlosen) Schulstreichen äußerst
aufgeschlossen gegenüber standen. So blieb es nicht aus, dass ich
hin und wieder bei etwas erwischt wurde, was seitens der Lehrer eine
gewisse Reaktion provozierte.
Wir hatten einen Mathelehrer, der den Spitznamen Kosinus trug.
Kosinus nicht wegen der Winkelfunktionen, die er uns beizubringen
hatte, sondern wegen seiner kleinen Tochter, die er sinniger Weise
auf den Namen Cosima taufen lies, was damals für uns Kinder kein
gebräuchlicher Name war und darum unsere Fantasie beflügelte mit dem
Ergebnis, dass er zum Kosinus wurde.
Kosinus war ein gewissenhafter, strenger Lehrer, eine
Respektsperson, vor der wir alle stramm standen, und nicht ganz
grundlos bildete ich mir ein, dass er ein besonders wachsames Auge
auf mich geworfen hatte. Ich fühlte mich von ihm nachgerade
verfolgt, denn er tauchte immer da und in dem Moment auf, wo ich
beim besten Willen mit ihm nichts am Hut haben wollte.
"Sorgenfrei", pflegte er dann zu sagen, "nun hol mal wieder dein
Lesebuch heraus. Zehn Zeilen. Morgen 13:00 Uhr im Lehrerzimmer."
Es
hatte damit begonnen, dass er mich dabei erwischte, wie ich ein
Bioexperiment sobotierte. Unser Biolehrer mit dem Beinamen Humus
wollte uns beweisen, dass aus Geranienblättern vollständig neue
Pflanzen wachsen, wenn man sie in die Erde steckt und fleißig gießt.
Die böse Tat meinerseits bestand darin, dass ich die Blätter
jedenTag heimlich herauszog und neu einpflanzte. Die Blätter welkten
bei der Prozedur zwar nicht dahin, aber auf die Idee Wurzeln zu
bilden, kamen sie bei dem Stress natürlich auch nicht.
Wie ich so konzentriert bei der Arbeit war, stand er plötzlich da,
beobachtete mein Tun und erkannte haargenau das hinterhältige Motiv.
Strafe musste sein. Im Strafen war er kreativ. Dafür war er bekannt
und gefürchtet.
Dass ich gerade das Lesebuch aus dem Ranzen angelte, war Zufall.
Auch die Seite, die er aufschlug, war zufällig gewählt. "Lessing in
Wolfenbüttel" hieß das Lesestück, war etliche Seiten lang und begann
so: "Lessing lebte von 1770 bis zu seinem Tode in Wolfenbüttel. Er
diente dort als Bibliothekar beim braunschweigischen Fürsten ..."
Jedes Mal, wenn er mich bei etwas erwischte, waren zehn weitere
Zeilen Prosa fällig, was bedeutete: auswendig lernen, im
Lehrerzimmer antanzen, links neben ihm Aufstellung nehmen und den
Text immer von der ersten Zeile an herbeten. Während dieser Zeit
würdigte er mich keines Blickes, sondern guckte in irgendwelche
Bücher oder korrigierte Mathearbeiten. Das empfand ich als pure
Schikane. Das Lernen und Aufsagen des Textes war es nicht, was mich
in Rage versetzte, nein, das wurde von mal zu mal mehr zu einer
Herausforderung, und ich bemühte mich, seine Aufmerksamkeit durch
besonders hervorgehobene Betonung und Gestik regelrecht zu
erkämpfen. Dafür übte ich zu Hause sogar vor dem Spiegel. Dafür
lernte ich, um absolut vorbereitet und textsicher zu sein, die
nächsten zehn Zeilen bereits im Voraus. Alles umsonst und
vergebliche Mühe. Hinter seinem Verhalten schien Absicht zu stecken.
Wenn ich fertig war, wies er lediglich mit einer lässigen
Handbewegung in Richtung Tür, was bedeutete, ich sollte
verschwinden. Die Höflichkeit gebot mir, auch noch "Auf Wiedersehen"
zu sagen. Was für eine Demütigung! Ich kam mir wie ein Volltrottel
vor.
So
konnte es nicht weiter gehen. Die erniedrigenden Auftritte mussten
ein Ende haben und zwar ein gutes, eins zu meinen Gunsten. Und um
dieses Ende zu erzwingen und um ihm allen Wind aus den Segeln zu
nehmen, entschloss ich mich zu einem Kraftakt und lernte das gesamte
Lesestück in einem Ritt auswendig. Die nächsten zehn Zeilen, die er
mir aufbrummte, forderte ich regelrecht heraus, um ihm zumindest
eine Ahnung von meiner Entschlossenheit zu vermitteln. Noch heute
bin ich davon überzeugt, dass ich mich bei diesem Vortrag selbst
übertroffen habe. Denn er zeigte Wirkung. Nach geraumer Zeit
unterließ er das Gekritzel in seinen Heften, musterte mich kurz und
hörte zu - ohne mich auch nur ein einziges Mal zu unterbrechen. Fast
schien mir, dass er geringfügig vor sich hin lächelte, aber das habe
ich mir gewiss nur eingebildet. Zum Schluss sagte er gar: "Alle
Achtung, Sorgenfrei." Mehr aber auch nicht. Und dann kam sie wie
immer, die Handbewegung in Richtung Tür.
Am
nächsten Tag überraschte mich meine Deutschlehrerin mit den Worten:
"Der Herr Sch ... hat mich angehalten, dir in Deutsch eine Eins
einzutragen, in Mathematik könne er das zu seinem Bedauern leider
nicht tun." Das war Musik in meinen Ohren. Von nun an war mir der
Kosinus weniger suspekt, und ich bemühte mich, auch in Mathe bei ihm
zu punkten, was mir, um ehrlich zu bleiben, nur mit Abstrichen
gelang. Mathe war nun mal nicht mein Lieblingsfach.
"Lessing in Wolfenbüttel", aus und vorbei, nie wieder habe ich einen
Blick auf dieses Lesestück geworfen. Schwamm drüber. Wirklich aus
und vorbei? Oder steckte mehr dahinter? War es Vorausbestimmung,
quasi Eingebung von oben, die den Kosinus bewogen hatte, seinen
Zeigefinger gerade auf dieses Lesestück zu lenken? Wie auch immer.
Selbst wenn es nur ein Zufall war, so war es einer mit Weitsicht,
der für mich Geschichte schreiben sollte. Verursacht durch ein paar
Geranienblätter ...
Als ich 1958 - vier Jahre später! - beim Abitur zur mündlichen
Deutschprüfung (Literatur) antreten musste, lief in der Regel
folgendes ab: man betrat den Prüfungsraum, auf einem Tisch lagen die
möglichen Themen in Reih und Glied geordnet, verkehrt herum, weiße
Blattseite nach oben, man stand davor, durfte wählen, war für einen
Augenblick seines Glückes Schmied oder auch nicht - ich griff nach
einer dieser Schicksalsfragen, wendete erwartungsvoll das Blatt und
las: "Sprechen Sie über die Periode Lessings als Bibliothekar der
Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel."
Amen, sagte ich im Stillen und legte los. Wie durch ein Wunder
öffnete sich in meinem Gehirn ein verschüttet geglaubtes Türchen und
der ganze vermaledeite Text ergoss sich über die andächtig
zuhörenden Vertreter der Prüfungskommission. Immerhin war mir
diesmal deren ungeteilte Aufmerksamkeit von Anfang an gewiss.
Hinterher ein positives Abwinken: keine weiteren Fragen.
Kurz nachdem ich den Raum verlassen hatte, kam mir mein
Deutschlehrer, ebenfalls Mitglied der Prüfungskommission, - wir
nannten ihn Sulla, Sulla ante portas, seiner außergewöhnlich langen
Beine und weiten Schritte wegen - hinterher gelaufen. "Fräulein
Sorgenfrei, bitte erklären Sie mir ..." Aber da gab es nichts zu
erklären. Nicht zu diesem Zeitpunkt. Wieso hätte ich riskieren
sollen, die Prüfung eventuell wiederholen zu müssen, und wer weiß,
was ich dann für eine Frage gezogen hätte?
Heute, ab und an beim Schwelgen in vergangenen Zeiten, erzähle ich
die Episode ganz gern mal. Und ich denke mit rundum guten Gefühlen
an sie zurück - an den Kosinus, den Humus, den Sulla und alle
anderen Lehrer auch ...
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