|
Arbeitstitel: Jesus, Stalin & Grit Sorgenfrei
Auszug |
home |
|
|
|
|
1
Meine Menschen
Meine wichtigsten Menschen heißen Mutti,
Oma, Tante Marie und Melanie. Bis auf Melanie wohnen wir alle in
einem alten Haus mit dicken Balken und Wänden aus Lehm. Zu uns
gehören noch Vati und Onkel Bruno, aber die sind nicht da. Vati
ist im Krieg, in Norwegen, dort gefällt es ihm gut. Onkel Bruno
ist der Mann von Tante Marie, er ist schon lange fort, ich weiß
nicht mehr, wie er ausgesehen hat. Er wohnt jetzt in Buchenwald,
in einem Lager.
Im Erdgeschoss unseres Hauses wohnt die Frau Sperling mit ihrem
Sohn Manfred, aber die zählt nicht mehr richtig, denn sie ist
krank und stirbt
bald
. Dem Manfred soll ich aus dem Weg gehen, weil meine Oma ihm
nicht über den Weg traut. Er lernt in einer Fabrik, in der
Teufelszeug hergestellt wird, was knallt und genauso explodieren
kann, wie die Bomben und Granaten draußen im Krieg.
Im Haus nebenan wohnt der alte Ditschens Willi mit seiner Frau
und dem Fips. Der Ditschens Willi kann mich nicht leiden und ich
ihn auch nicht. Ich wäre froh, wenn er noch weiter weg wohnen
würde als der Onkel Bruno, damit er mich nicht wegen jedem
Klacks vollmeckern und das Wunder Gottes in Ruhe wachsen kann,
ohne dass ihm die Wurzeln abgehackt werden, weil die
unterirdisch ein bisschen in seinen Garten rüber gewuchert
sind. Schade wäre nur, wenn mich der Fips nicht mehr besuchen
käme, und am liebsten hätte ich den Fips ganz für mich allein. Manchmal
tritt der Ditschens Willi mit seinen derben Schuhen nach dem
Fips. Das erfüllt mich mit Zorn, und ich denke darüber nach, wie
ich ihm das heimzahlen kann. Wenn ich mir vom lieben Gott was
wünschen dürfte, wünschte ich mir nicht, dass er mich fromm
macht, sondern dass er mir den Fips schenkt, und ich glaube, der
Fips hätte den gleichen Wunsch wie ich, wenn er mit dem lieben Gott
sprechen und nicht nur miauen könnte.
Da fällt mir gleich die Schwester Martha aus der Sonntagsschule
ein, weil sie noch schlechter zu Tieren ist als der Ditschens
Willi. Sie kommt meine Oma manchmal besuchen und schleppt immer
eine Fliegenklatsche mit sich herum. Oma sagt, sie sei
allergisch auf alles, was krabbelt und bekommt sofort Pickel,
wenn ihr mal was zu nahe kommt. Mit der Klatsche hat sie meinen
niedlichen, kleinen Hansi totgeschlagen. Der Hansi hatte sich
gerade bei uns eingelebt. Er war ganz sauber und hat sich
immerzu mit seinen dünnen Vorderbeinchen das Gesicht geputzt.
Auf dem Küchentisch hat er eine kleine Wohnung gehabt. Mutti hat
sie mit vier Streichhölzern eingezäumt. In dem Viereck fand er
immer ein paar Krümel Zucker und einen Tropfen frisches Wasser.
Mehr hat der kleine Hansi nicht gebraucht zum Leben. Er war
schon fast zahm und ist mir bis ins Bett hinterher geflogen, über
mein Gesicht gekrabbelt und, wenn ich nicht gewackelt habe, auf
meiner Nase eingeschlafen. Die Schwester Martha, die ihn gar
nicht gekannt hat, hat ihn sechsbeiniges Ungeziefer genannt. Als
sie einmal mit meiner Oma allein in der Küche war, hat sie ihre
Klatsche rausgeholt und ihn zu Mus gedroschen. Wir haben den
Rest vom Hansi auf dem Tisch gefunden. Mutti hat lange mit mir
darüber geredet und mich darum gebeten, dass ich der Schwester
Martha verzeihen soll. Ich habe ihr zu Gefallen zwar ja gesagt,
aber ich werde es nicht tun. Niemals!
Melanie ist meine Freundin. Sie heißt im Ganzen Melanie Pan,
wird aber Melli gerufen, und wohnt gegenüber auf der anderen
Straßenseite, wir können uns in die Fenster gucken. Melli ist so
alt wie ich, wir sind bald sechs und kommen zusammen in die
Schule. Zuerst konnte ich Melli nicht leiden, wegen der
Kloßbrühe, die wir jeden Sonntag von ihren Eltern geschenkt
bekommen. Wenn Melli mit dem Topf unten steht, muss ich
runterlaufen und mich für die Brühe bedanken, weil ja meistens
ein übrig gebliebener Kloß für mich in der trüben Suppe
herumschwimmt. Jetzt habe ich mit dem Bedanken aufgehört und
bekomme den Kloß trotzdem. Melli bedankt sich ja auch nicht,
wenn ich ihr auf dem Kohlenhof helfe, dass sie ihren Eimer
genauso schnell mit Briketts voll bekommt wie ich. Sie muss dann
nicht allein bei den schwarzen Kohlemännern herumstehen. Ich
weiß, dass sie sich ohne mich vor ihnen grault und froh ist,
wenn wir unsere vollen Eimer gemeinsam nach Hause schleppen
können. Auch beim Pferdeäpfelsammeln bin ich schneller als Melli,
aber das ist ihr egal, weil sie die Äpfel für nichts gebrauchen
kann. Die Äpfel bekommt alle das Wunder Gottes, und das Wunder
Gottes gehört mir.
Ich heiße Grit Sorgenfrei. Mutti hat gesagt, wenn man einen
langen Nachnamen hat, klingt es melodischer, wenn der Vorname
kurz ist. Bei Melanie ist es genau umgekehrt, sie hat wegen des
kurzen Nachnamens einen langen Vornamen. Auch das klingt
melodisch. Wir können beide froh sein, dass unsere Eltern auf
diesen Umstand geachtet haben. Bei Jutta Röckl, die auch in
unserer Straße wohnt und behauptet, dass sie in die gleiche
Klasse kommt wie wir, sieht das schon anders aus. Melli und ich
finden, dass wir schönere Namen haben und außerdem wohnt der
Vater von Jutta Röckl auch in so einem Lager wie der Onkel
Bruno. Meine Oma meint, es reicht schon an, dass wir mit dem
Onkel belastet sind und ich soll nicht noch Kinder angeschleppt
bringen, von denen man nicht weiß, was die Väter auf dem
Kerbholz haben. Mit Mellis Vater stimmt aber alles, auch wenn er
nicht an der Front ist wie mein Vati, denn er ist wegen einer
wichtigen Sache vom Krieg freigestellt.
Mein Vati kann von Glück reden, dass er nach Norwegen gekommen
ist und nicht nach Russland. In Norwegen hat er es besser als
wir hier in der Heimat, er hat genug zu essen und muss im Winter
nicht frieren. Auch ist dort die Gefahr, dass er im Kampf
totgeschossen wird, weit geringer als an sämtlichen anderen
Fronten. Mutti sagt, dass ihr Fritz klug und umsichtig genug
ist, gefährliche Situationen zu meiden und dass er sich im
Ernstfall aus der Schusslinie zu bringen weiß, weil er das schon
früher so gehalten hat und dass ich mir um ihn keine Sorgen zu
machen brauche. Es wäre auch deshalb sehr schade um Vati, weil
er ein wichtiger Finanzbeamter und eine Respektsperson ist, dazu
stattlich anzusehen und noch ziemlich jung und ein flotter
Bursche. Das leuchtet mir ein. Nur kranke und alte Menschen
sollten sterben, solche wie die Frau Sperling, bei der es in den
Därmen fault, oder der Ditschens Willi, dem bereits ein Bein
fehlt und der das Gesicht voller Warzen hat und obendrein noch
stinkt, weil er ein Dreckferkel ist und sich nicht wäscht.
Manchmal kommt der Vati ganz unverhofft nach Hause und bringt
uns etwas Wertvolles zu essen mit, was manchmal schmeckt und
manchmal nicht. Einmal war es eine Leberwurst, die eklig nach
Erbsenbrei geschmeckt hat, aber darauf kommt es nicht an,
sondern nur darauf, dass wir etwas in den Magen bekommen, damit
der nicht einschrumpelt, denn mit einem verschrumpelten Magen
macht das Leben keinen Spaß mehr. Leider bringt der Vati nie
viel Zeit mit, nur so viel, wie die schwere Uniform braucht, um
von Mutti gewaschen, getrocknet und gebügelt zu werden. Dann
muss er gleich wieder weg nach Norwegen, und Oma hat den
Eindruck, dass er ganz gern wieder abhaut. Das wird so weiter
gehen, bis der Krieg zu Ende ist. Mutti behauptet, im Frühling
ist es so weit, länger hält das kein Land mehr aus, denn
abgesehen von unserer Kleinstadt, die noch wenig Bomben
abbekommen hat, liegt das ganze Land in Schutt und Asche. Es
gibt kaum noch etwas, was sich lohnt, kaputt geschlagen zu
werden. Wegen unserem alten Lehmhaus brauchen die
Bombengeschwader nicht extra aus England und Amerika angeflogen
kommen, das lohnt sich nicht, denn allein eine einzige Bombe ist
viel teurer als unser ganzes Haus vom Keller bis zum Dachboden,
einschließlich dem Hinterhaus, dem Garten und dem Wunder Gottes
ganz hinten am Zaun. Auf jeden Fall freue ich mich auf den
Frühling, den Vati und den Frieden, der dann für immer sein
wird.
Wenn jemand behauptet, Elfrun sei kein schöner Name, dann ist
das dumm. Jutta Röckl ist dumm, denn sie hat auf der Straße
herumerzählt, Frauennamen müssten auf a enden, sonst wären es
keine richtigen Frauennamen. Damit hat sie es sich mit Melli und
mir gründlich verdorben. Wir haben sie uns geschnappt und ihr
eine geknallt und gesagt, ab nun kann sie sehen, wo sie eine
Freundin herbekommt mit einem a hinten dran, wir jedenfalls
pfeifen auf sie und ihre Aaaas.
Elfrun – das ist ein Name, so schön wie aus einem Märchenbuch.
Oma hätte Mutti nie so genannt, wenn sie nicht schon als Baby
wie eine Elfe ausgesehen hätte. Jetzt ist meine Mutti groß und
schlank. Sie hat blaue Augen und blondes, lockiges Haar, fast so
lang und glänzend wie das von den Engeln auf dem Bild in der
landeskirchlichen Gemeinschaft. Besonders schön sieht es aus,
wenn sie das Haar offen trägt und das Licht dagegen scheint und
der Wind ein wenig mit den Locken spielt. Das ist, als könnte
man sie wegpusten, als würde sie von der Erde weg und in den
blauen Himmel hineingewirbelt, so leicht und luftig und zart und
lieblich, dass ich vor Staunen beinahe das Atmen vergesse. Aber
das ist nicht immer so. Oma wünscht, dass sich Mutti einen
Mittelscheitel zieht und die Haare zu einem Knoten bindet, weil
das arischer aussieht. Ich weiß nicht recht, ob arisch aussehen
etwas besonders Gutes ist, aber ich finde es schon deshalb blöd,
weil ich nie so aussehen kann wie meine Mutti. Ich habe zwar
auch blaue Augen, aber keine blonden Haare und keine einzige
Locke, ich habe glatte schwarze Haare wie mein Vati. Dazu
bemerkt Oma, dass das eine ungewöhnliche Zusammenstellung ist,
ein unglücklicher Zufall, und es wäre besser, wenn ich äußerlich
mehr nach Mutti geraten wäre. Noch schlimmer ist, wenn sie aus
meinen Zöpfen Schnecken drehen und über den Ohren mit Haarnadeln
zusammenstecken. Die Nadeln piksen immerzu, wenn man drankommt.
Damit die Schnecken nicht wackeln, binden sie mir obendrein ein
Samtband um den Kopf, das ist wie eine Fessel. Ich hätte viel
lieber kurze Haare und eine Rolle wie Melli, aber ich kann
betteln, wie ich will, Mutti lässt sich nicht erweichen.
Manchmal kann sie ganz schön streng sein, aber streng und streng
ist nicht ganz dasselbe, wirklich streng ist nur meine Tante
Marie, die oben untern Dach im Altenstübchen wohnt.
Vor Tante Marie muss ich auf der Hut sein, sie taucht immer da
auf, wo ich sie nicht vermute. Einmal war ich bei ihr oben und
habe aus Versehen einen Eimer mit Wischwasser umgerannt. Gleich
war sie da, und ich musste zur Strafe so lange auf dem Sofa
sitzen, bis alles wieder trocken war. Während Tante Marie das
Wasser aufgetitscht hat, hat sie fröhliche Lieder geträllert und
zwischendurch zweimal mit mir gebetet. Tante Marie betet
mehrmals am Tag ziemlich lange. Mutti und Oma beten auch jeden
Tag, aber die Gebete sind kürzer. Sie bitten den lieben Gott
meistens darum, dass er uns etwas schenken möge, seinen Segen
und mehr zu essen. Tante Marie will vom lieben Gott nichts
geschenkt haben, sie dankt ihm für alles, so wie es ist, und
behauptet, dass der liebe Gott alles richtig macht, einfach
alles, und dass man ihn dafür immerzu lobpreisen muss, auch
wegen der Sache mit Onkel Bruno, die einen tiefen Sinn hat, denn
er wohnt nicht wegen einer schlechten Tat im Lager, sondern zur
Ehre Gottes, und man muss bedenken, dass der arme Herr Jesus,
welcher der Sohn vom lieben Gott ist und den sie vor vielen
Jahren ans Kreuz genagelt haben, noch viel viel mehr gelitten
hat als der Onkel Bruno jetzt und zwar freiwillig, weil er mit
seinem Leiden die Menschen von ihren Sünden erlösen wollte.
Darum freue ich mich mit Tante Marie für den Onkel Bruno, dass
er im Lager sein darf und dort soviel für den lieben Gott tun
kann. Sie sagt auch, dass die Kinder beizeiten anfangen müssen,
auf Gottes Wegen zu wandeln. Darum ist Tante Marie auch immer
hinter mir her und nutzt jede Gelegenheit, um mir eine von ihren
vielen Weisheiten mit auf den Lebensweg zu geben. Auch ist es
wichtig für mich zu wissen, dass der liebe Gott die guten
Menschen beschützt, besonders aber unsere Familie. Ich brauche
keine Angst zu haben, dass uns etwas Böses widerfährt, auch
nicht, wenn draußen in der Welt Krieg ist und überall Bomben
fallen. Wir haben deshalb einen so heißen Draht zum lieben Gott,
weil Onkel Bruno zur Braut Christi gehört. Das mit der Braut
Christi ist aber ein großes Geheimnis, das ich nicht wissen
darf. Tante Marie kann sich nicht erklären, bei welcher
Gelegenheit ich das aufgeschnappt habe. Sie wurde plötzlich ganz
unruhig und zittrig, und ich musste ihr fest versprechen, mit
niemandem darüber zu reden, besonders nicht mit der Oma, und ich
weiß auch warum, es ist deshalb, weil Tante Marie bei den
Bibelforschern ist und Oma die Bibelforscher nicht ausstehen
kann.
Meine Oma heißt Johanna. Sie ist die Schwester von Tante Marie.
Tante Marie ist darum keine richtige Tante, sondern eine
Großtante und Onkel Bruno ein Großonkel, aber der kleine
Unterschied ist nicht wichtig und ich brauche ihn nicht
beachten. Es soll noch eine Schwester von ihnen geben, die wohnt
weit weg und kann uns wegen dem Krieg nicht besuchen kommen. Sie
heißt Tante Hedwig und ist die Älteste von den drei Schwestern.
Tante Marie war das Nesthäkchen unter ihnen, sie war als Kind
immer sehr artig und fleißig und hat ihren Eltern nie Kummer
bereitet. Auch Oma soll sich große Mühe gegeben haben, aber sie
war nach Tante Maries Schilderung etwas flatterhaft veranlagt
und hat es ausgenutzt, dass sie die Schönste von den Dreien war.
Außerdem hatte sie schon als Kind Asthma, weswegen sie sehr
blass und anfällig war und jeder Rücksicht auf sie nehmen
musste. Wenn sie mal nicht im Mittelpunkt stand, hat sie gleich
einen Anfall bekommen und alle damit verrückt gemacht. Heute
weiß Tante Marie, dass man ihr vieles nachsehen muss wegen dem
Asthma, aber damals als Kind haben sie sich oft gestritten.
Früher hat die Oma auch einen Mann gehabt, der hieß der schöne
Alfred. Ich habe ihn auf einem Foto gesehen, und er ist mein
Opa, aber keiner will mit mir über ihn reden. Ich vermute, auch
hier gibt es ein Geheimnis. Vielleicht gehört er auch zur Braut
Christi. Auf dem Foto ist die Oma jung und trägt ein elegantes
weißes Kleid – wie eine Prinzessin. Neben ihr steht der schöne
Alfred mit einem Spazierstöckchen am Arm und vor ihnen stehen
zwei kleine Kinder, ein Mädchen und ein Junge, auch ganz in weiß
gekleidet. Das Mädchen ist meine Mutti. Den Jungen, der ja jetzt
auch schon groß sein müsste, habe ich nie gesehen. Als ich Mutti
bedrängte, mir von ihm zu erzählen, hat sie bekümmert gelächelt,
mir über den Kopf gestrichen und gesagt, ich sei noch zu klein,
um das alles zu verstehen, aber es hängt damit zusammen, dass
Oma oft so traurig ist und deshalb soll ich immer lieb zu ihr
sein und tun, was sie sagt, gleich beim ersten Mal. Tante Marie
hat schon recht, es soll immer nach ihr gehen und alle sollen
nach ihrer Pfeife tanzen. Wahrscheinlich hat die Großel, meine
Urgroßmutter, die fast hundert Jahre alt geworden ist und
deshalb sterben musste, wegen dem vielen Streit und den vielen
Geheimnissen bestimmt, dass das Haus mir gehören soll, wenn ich
groß bin und niemand anderem aus der Familie.
An die Großel kann ich mich erinnern, denn sie war zu
Weihnachten noch da und hat mir das Puppen-Mariechen geschenkt,
das ist eine Gliederpuppe mit altmodischen karierten Kleidern
und einem roten Filzhut auf dem Kopf, und sie war einmal Tante
Maries Lieblingspuppe als sie ein kleines Mädchen war. Jetzt
sitzt das Puppen-Mariechen wieder oben bei Tante Marie auf dem
Sofakissen, weil sie nicht mit ansehen kann, wie lieblos ich ihr
Mariechen durch die Gegend schlenkere. Später einmal,
wenn ich verständiger geworden bin und den Wert vom Mariechen
erkannt habe, soll ich es wieder bekommen und noch den
ausgestopften, blaugrünen Zeisig dazu, der oben auf der Wanduhr
sitzt und den Tante Marie als Kind aus Versehen totgetreten hat,
was bis heute ein wunder Punkt in ihrem Leben geblieben ist. Ich
will aber weder das Mariechen noch den Zeisig, weil ich viel
lieber etwas Lebendiges haben möchte. Wenn der Krieg vorbei ist
und wir wieder mehr zu essen haben, dann bekomme ich eine Katze
oder einen Hund, das hat mir die Großel auf die Hand
versprochen, und alle haben es gehört. Ich habe die Großel sehr
lieb gehabt. Das Außergewöhnliche an unserer Großel war, dass
sie immer schöner geworden ist. Ihr Gesicht strahlte
Freundlichkeit und Güte aus, und ihr Blick war mild wie der
Schein der Abendsonne. Tante Marie hat mir verraten, dass das
bei uns in der Familie liegt und dass es nur wenige Menschen
gibt, die erst im Alter zu voller Schönheit erblühen und denen
ein paar Runzeln mehr oder weniger nichts anhaben können. Tante
Marie war auch sofort damit einverstanden als die Großel
vorgeschlagen hat, dass sie ihr Drittel am Haus an mich
verschenken soll und zwar deshalb, weil es ein Ballast ist und
irdische Werte ihr nichts bedeuten.
Unser Haus ist ein ganz besonderes Haus. Es steht am Hang, und
der Hang ist so steil, dass man vom Erdgeschoss, der ersten
Etage und dem Altenstübchen oben unter dem Dach hinaus ins Freie
gelangen kann. Jede Wohnung hat zwei Zugänge, einen vom
Treppenhaus und einen vom Garten. Weiterhin hat das Haus einen
Keller, in den man nur über eine schmale Falltür einsteigen
kann. Die Falltür befindet sich bei Sperlings im Vorsaal, und
man muss zuvor bei ihnen klingeln, um hereingelassen zu werden.
Im Keller ist es eng, muffig und feucht und zum Gruseln, weil es
kein elektrisches Licht gibt. Auch hört man dort die kranke Frau
Sperling stöhnen. Das Stöhnen gelangt durch die Falltür in den
Keller hinunter und läuft dort wie ein verirrtes Echo den Gang
rauf und runter. Die Falltür darf niemals zufallen, wenn man
unten ist, wenn sie zufällt, dann ist man in der Tiefe lebendig
begraben.
Wir wohnen in der ersten Etage. Wenn Vati nicht da ist, schläft
Oma in seinem Bett, weil sie vor dem Alleinsein Angst hat. Sie
hat aber auch eine Kammer mit einem eigenen Bett im Dachgeschoss
oben, direkt neben dem Altenstübchen. Dorthin verzieht sie sich
auch tagsüber, wenn Vati da ist. Vati ist der Meinung, dass wir
nicht den ganzen Tag aufeinander hocken können und jeder seinen
Freiraum braucht, sonst wird die Luft zum Atmen dünn.
Das Altenstübchen heißt so, weil die Großel dort bis zu ihrem
Tod gewohnt hat. Es ist eine kleine vollständige Wohnung, aber
das Wort Altenstübchen erklärt die Bedeutung der Wohnung nicht
ausreichend. Der Urgroßvater, der das Haus gebaut hat, hat
gewollt, dass im Haus immer ein Platz frei ist für ein
Familienmitglied, das sich im Leben verirrt hat oder in bittere
Not geraten ist. Es soll zurück nach Hause kommen können und da
stets willkommen sein und ein Dach über dem Kopf finden, ähnlich
wie es in der Geschichte vom verlorenen Sohn in der Bibel
geschrieben steht. Als Onkel Bruno ins Lager kam, war es Tante
Marie, die zur Großel ins Altenstübchen gezogen ist. Oma hat oft
gesagt, das war eine Fügung des Schicksals, denn genau zu der
Zeit ist die Großel bettlägerig geworden, und Tante Marie hat
sofort ihre Pflege übernehmen können.
Vom Altenstübchen gelangt man über einen schmalen Gang durch den
Anbau, der mehr ein Schuppen als ein Haus ist, in den oberen
Garten. Dort, in der hintersten Ecke befindet sich ein besonders
warmes und windgeschütztes Plätzchen. Da steht das Wunder Gottes
direkt am Zaun, der unser Grundstück von Ditschens Willi seinem
abgrenzt. Das Wunder Gottes ist ein Baum, ein Zauberbaum, wie es
ihn nirgendwo auf der Welt noch einmal gibt. Wahrscheinlich
stammt er aus dem Paradies, aber keiner weiß, auf welch
geheimnisvolle Weise er in unseren Garten gelangt ist.
Vielleicht hat ein blaues Vögelchen das Samenkorn in seinem
Schnabel von weit her getragen, von so weit her, wie man es sich
gar nicht vorstellen kann. Am Zauberbaum reifen im Sommer
dreierlei verschieden Früchte: blaue Pflaumen, rote Pflaumen und
gelbe Pflaumen. Und diesem wundersamen Baum will der schlechte
Ditschens Willi mit der Axt die Wurzeln abhacken. Das darf nie
geschehen. Ich wünsche mir, dass dem Ditschens Willi beide Arme
und sein verbliebenes Bein abfaulen, wenn er dem Wunder Gottes
das Geringste antut. Wenn es darum geht, das Wunder Gottes zu
beschützen, stehen Mutti, Oma und Tante Marie fest an meiner
Seite. Sie wollen mit dem Ditschens Willi noch einmal wie
vernünftige Menschen reden, aber nur unter der Bedingung, dass
ich meinen Teil dazu beitrage und den alten Mann nicht immer
wieder mit Unarten gegen mich aufbringe. Das habe ich
versprochen. Trotzdem habe ich mir mit Melli was ausgedacht, wie
wir ihn ärgern können, aber das zählt nicht, weil wir nicht so
dumm sind und uns nicht dabei erwischen lassen.
|
|
|
|
|
|
|
2
Tag- und
Nachtgeschichten
Weil ich sehr gerne Geschichten höre,
bekomme ich auch jeden Tag welche erzählt. Meistens sind es
Geschichten aus der Bibel oder aus dem großen Afrikabuch mit den
vielen bunten Bildern. Es ist nicht immer leicht, mit den
Geschichten klar zu kommen und gut und böse von einander zu
trennen, weil manches nicht so gut oder so böse ist, wie sie es
mir einreden wollen. Auch kann ich den Unterschied zwischen
einem Märchen und einem Gleichnis nicht erkennen. Mutti meint,
das kommt alles noch, wenn ich älter bin. Jetzt soll ich mir die
Geschichten erst einmal anhören und merken. Irgendwann im Leben,
bei einer passenden Gelegenheit, wird mir die eine oder andere
Geschichte wieder einfallen, und dann habe ich gleich ein
Beispiel zur Hand, das mir hilft, eine Entscheidung zu treffen.
Die Geschichte vom verlorenen Sohn, die mir die Großel besonders
oft und gern erzählt hat, ist eine von diesen besonderen
Geschichten. Sie ist für die Menschen von Bedeutung, die einmal
in dem Altenstübchen wohnen werden, wenn ich erwachsen und der
Bestimmer über das Haus geworden bin.
Die Geschichte steht im Evangelium vom Apostel Lukas geschrieben
und geht so: Es war einmal ein Bauer, der hatte zwei Söhne,
einen guten, der immer gehört hat und einen schlechten, der
Flausen im Kopf hatte. Der schlechte Sohn ließ sich sein Erbe
vom Vater geben und haute damit ab in die weite Welt. Dort
feierte er immerzu wilde Feste, auf denen es viel zu essen und
zu trinken gab. Eines Tages war das viele Geld alle, und er
konnte sich nicht einmal mehr ein Stück Brot kaufen. Die
Freunde, die mit ihm gefeiert hatten, wollten ihm nicht helfen
und waren keine echten Freunde. Vor lauter Hunger verdingte er
sich als Schweinehirt und hoffte, etwas aus dem Trog der
Schweine stibitzen zu können, aber der Schweinebesitzer war ein
geiziger Kerl, der ihm nicht erlaubte, sich das Futter mit den
Schweinen zu teilen. Da fiel ihm ein, wie schön er es bei seinem
Vater gehabt hatte und er beschloss, nach Hause zurückzukehren
und um Verzeihung zu bitten. Als der Vater ihn kommen sah,
freute ihn das so sehr, dass er ein großes Fest bereiten ließ.
Er zog seine besten Kleider an und ließ das dickste Kälbchen
schlachten. Da kam der gute Sohn von der schweren Feldarbeit
nach Hause, sah den ganzen Aufwand und konnte nicht begreifen,
warum der Vater das alles tat. Immerhin war er derjenige, der
die ganze Zeit über doppelt geschuftet und dem Vater niemals
Kummer bereitet hatte, jedoch nie ist ihm zu Ehren ein Fest
bereitet worden. Der Vater aber sagte, er soll nicht
eingeschnappt sein, sondern freudig mit ihnen feiern, denn
schließlich sei es so, als wäre sein Sohn verloren gewesen und
nun wieder gefunden worden und dass sei Anlass zur Freude und
ein großes Fest wert.
Ich kann nicht glauben, dass der Vater gerecht gehandelt hat.
Auf jeden Fall hätte ich dem guten Sohn als Dank für die viele
Arbeit ein Fest bereitet und dem schlechten Sohn soviel von dem
Essen abgegeben, dass er ordentlich satt geworden wäre und ihn
dann aufs Feld zum Arbeiten geschickt. Das erscheint mir
gerechter. Eine leise Stimme flüstert mir zu, dass der brave
Sohn bei der ganzen Sache nicht gut wegkommen ist und den Dummen
macht, aber das behalte ich lieber für mich. Die Großel hat
immer wieder darauf hingewiesen, dass es hier darauf ankommt,
dass der schlechte Sohn seine Taten ernsthaft bereut und deshalb
eine Chance bekommen muss und dass der Vater glücklicherweise
ein so weites Herz hat, dass er den schlechten Sohn in seine
Arme nimmt und vergibt, was er Unrechtes getan hat. Ich soll
aber auch daran denken, dass ein Mensch ohne eigene Schuld in
eine verzwickte Lage geraten kann, und in so einem Fall ist es
noch wichtiger, dass ihm geholfen wird, besonders dann, wenn es
sich um ein Familienmitglied handelt. Und wenn es der Fall sein
sollte, dass man von jemandem zu Unrecht gekränkt wurde, so muss
man sich den Vater mit dem weiten Herzen zum Vorbild nehmen und
verzeihen können. „Grit, meine Kleine“, hat sie gesagt, „du
musst immer ein offenes Herz für die Nöte anderer Menschen
haben, und es steht in Gottes Wort geschrieben, du sollst sogar
deine Feinde lieben.“
Ich glaube nicht, dass ich meine Feinde lieben kann. Der
Ditschens Willi von nebenan und die Schwester Martha aus der
Sonntagsschule sind meine Feinde, und ich werde sie niemals
lieben. Niemals! Über Jutta Röckl will ich nachdenken. Ihr
könnte ich verzeihen, aber dann verliere ich Melli als Freundin,
und das will ich nicht. Pans und Röckls sind keine Freunde, und
ich habe gehört wie Herr Pan Juttas Vater einen Kommunisten
geschimpft hat, das kann nichts Gutes bedeuten. Oma hat gesagt:
„Bleib du bei Melli, das ist besser so.“ Die Schwester Martha
ist eine blöde Kuh. Sie nimmt mich in der Sonntagschule mit
Absicht nicht dran, wenn ich mich melde. Dabei weiß ich alle
Fragen viel richtiger zu beantworten als andere Kinder. Davon
will die Schwester Martha aber nichts wissen. Sie hat mich noch
kein einziges Mal gelobt, nur mit ihren spitzen Finger auf mich
gezeigt und gesagt: „Du hälst deinen vorlauten Mund, bei dir ist
das ja kein Wunder.“ Um sie zu ärgern, habe ich mit den ganzen
Gesangsbüchern einen Turm gebaut und den Turm mitten im Gebet
mit dem Fuß umgeschubst. Da ist sie aber erschrocken, und ich
bin gleich am nächsten Sonntag in die Mittelgruppe gekommen,
dort sind die Kinder, die schon in die Schule gehen und lesen
können, erste bis fünfte Klasse. Die Mittelgruppe wird von
meiner Mutti geleitet, und sie kann viel schönere Geschichten
erzählen als die Schwester Martha.
Der umgeschubste Turm ist nicht der einzige Grund, weshalb ich
in die Mittelgruppe gewechselt bin. Der Grund ist eine
Geschichte, die die Schwester Martha jedes Mal erzählt, wenn
eine Neue in die Kleinengruppe kommt. Die Geschichte handelt von
einem kleinen Mädchen, dessen Eltern gestorben sind. Das Mädchen
hat kein Zuhause mehr. Es ist mutterseelenallein auf der Welt.
Weil es nicht hübsch aussieht und obendrein noch einen Buckel
hat, will es keiner haben. Mitten im kalten Winter läuft es
barfuß und ohne Mantel durch die leeren Straßen der Stadt. Als
es vor Hunger und Kälte ganz matt geworden ist und keinen
Schritt mehr laufen kann, setzt es sich in eine Schneewehe und
schläft ein. Da erscheint dem kleinen Mädchen plötzlich ein
wunderbares Licht, und es wird ihm wieder warm ums Herz. Aus dem
Rücken wachsen ihm zwei prächtige Flügel. Es erhebt sich mit
Leichtigkeit von der Erde und fliegt geradewegs in das wärmende
Licht hinein, immer weiter und weiter und höher und höher. Oben
im Himmel beim lieben Gott wird das Mädchen bereits von ihren
Eltern erwartet. Sie umarmen und küssen einander und bleiben von
nun an für immer vereint und glücklich und wollen nie wieder in
das irdische Jammertal zurück.
Die Geschichte von dem armen, kleinen Mädchen hat mich nicht in
Ruhe gelassen. Deshalb habe ich meinen ganzen Rücken vor dem
Spiegel abgesucht, um zu erkunden, wo genau die Stelle ist, aus
der die Flügel herauswachsen, aber keine gefunden. Vielleicht
ist die Geschichte gar nicht wahr, und die Schwester Martha eine
Lügnerin? Allerdings haben auch die Engel auf den Bildern
herrliche Flügel am Rücken mit vielen Federn dran, eine flaumige
Pracht, die man auch Schwingen nennt, und es muss irgendwie
möglich sein, dass sie wachsen. Da kam mir die Idee, das mal
auszuprobieren, und ich bin losgegangen, genauso wie es das
Mädchen getan hat, immer weiter und weiter weg, erst durch den
Park, dann ein Stück den Fluss entlang und dann den Pfad hinauf
in die Berge, der zum Pulverturm führt. Als die Sonne tief am
Himmel stand und mir die Füße weh taten, habe ich mich auf einen
Stein gesetzt und mitten hinein in das rote Licht geguckt, bis
alles um mich herum geflimmert hat. Dabei bin ich müde geworden.
Bis zu diesem Punkt war alles nicht schwierig gewesen, und es
war der Moment gekommen, wo die Flügel hätten sprießen müssen.
Doch genau in diesem Augenblick wurde ich unsanft gerüttelt, und
eine ferne Stimme fragte erstaunt: „Grit, was machst du denn
hier so allein?“ Noch wie im Traum antwortete ich: „Ich bin ein
armes, verlassenes Waisenkind und habe niemanden mehr auf der
Welt. Ich ziehe aus, um im Himmel ein Engel mit weißen Schwingen
zu werden.“ Da packte mich die Frau mit festem Griff und stellte
mich auf die Beine. „Na, da komm mal mit mir mit“, sagte sie,
„deine Mutti wird sich längst Sorgen um dich machen.“
Als sie mich zu Hause ablieferte, waren Mutti, Oma und Tante
Marie sehr aufgeregt. Mutti drückte mich fest an sich und
fragte: „Kind, wie konntest du nur weglaufen und Frau Bachmann
solche Lügengeschichten erzählen, wie konntest du nur?“ Oma
murmelte: „Mich wundert schon seit geraumer Zeit, was für
sonderbare Gedanken dem Kind im Kopf herumschwirren.“ Ich habe
nichts verraten. Später schnappte mich Tante Marie im
Treppenhaus und sagte eindringlich: „Nun mal heraus mit der
Sprache!“ Vor Schreck habe ich alles ausgeplaudert. Da ist sie
gleich zu Mutti und Oma gerannt und hat sich noch mehr aufgeregt
und gesagt: “Nun habt ihr die Quittung dafür, was ihr dem Kind
für einen Unfug erzählt. Ein Engel wollte es werden. Als ob das
so einfach wäre. Ihr solltet das Kind Achtung vor diesen
wunderbaren Geistgeschöpfen lehren statt ihm solchen kindischen
Firlefanz auftischen.“ Mich hat sie aber kein bisschen
ausgeschimpft.
Obwohl ich jetzt in der Mittelgruppe bin, ist die Schwester
Martha immer noch hinter mir her und tut so, als hätte sie mir
was zu sagen. Sie hat mich am Ohrläppchen gezogen und wie eine
Schlange gezischelt: „Na warte nur, Grit Sorgenfrei, keiner kann
unseren Herrgott ungestraft veralbern, auch du nicht.“ Ihre
Stimme klingt richtig zum Fürchten, und sie sieht aus wie ein
langes, dürres Nachtgespenst mit einer dicken Brille auf der
spitzen Nase, und ihre Augen glotzen einen an wie die von einem
Frosch. Die dünnen, grauen Haare hat sie zu einem Zopf
geflochten, den sie mehrfach um den Kopf herumgewickelt hat.
Damit sie den Zopf nicht immer neu flechten muss, hat sie
meistens eine weiße Haube auf, und ihr schwarzes Kleid ist so
lang, dass sie damit die Fusseln vom Fußboden wie ein Kehrbesen
hinter sich her schleift. Die Schwester Martha hat keinen Mann
und keine Kinder und wohnt gleich neben der Sonntagsschule im
Diakonissenhaus in einem kleinen Zimmer. Die Sonntagsschule ist
in dem Haus, in dem auch die landeskirchliche Gemeinschaft ihren
Gottesdienst abhält. Dort singt meine Mutti im Chor, und die
Frau Bachmann spielt das Harmonium. Das weiß ich aber erst seit
gestern. Blöd ist nur, das die Frau Bachmann die
Engelsgeschichte ausgequatscht hat und mich die frommen Frauen
so komisch angucken, irgendwie mitleidig oder ahnungsvoll oder
so, als wollten sie gleich anfangen zu heulen. Am liebsten würde
ich ihnen eine Fratze ziehen, aber ich tue es Mutti zuliebe
nicht, damit sie sich meinetwegen nicht schämen muss.
Gestern war ich das erste Mal mit Mutti und Oma im
Abendgottesdienst. Sonst muss ich um diese Zeit längst im Bett
liegen. Eine von beiden passt dann auf mich auf, damit ich nicht
allein bin, wenn ein Fliegeralarm kommt. Tante Marie passt auch
gern auf mich auf, nur nicht, wenn sie in die landeskirchliche
Gemeinschaft wollen. Sie sagt: „Das müsst ihr schon selbst
organisieren.“ Der Grund, dass ich mit durfte, ist ein Gedicht
mit vielen Strophen, dass ich vor den ganzen Leuten aufsagen
sollte. Wenn ich die Augen zu mache, ist mir gleich wieder wie
gestern Abend und ich sitze zwischen Mutti und Oma auf der
harten, glatten Bank vorn in der ersten Reihe. Der Kehrreim des
Gedichtes geht so: Auch die kleinen Kinder kommen oft in Not /
und ihr kindlich Flehen hört der liebe Gott / kannst ihm alles
sagen / alles was die quält / weil er auch in finstren Tagen
immer zu dir hält… „Grit, du bist jetzt dran“, flüstert Mutti
mir zu, „und keine Bange. Mach alles so, wie wir es geübt haben,
toitoitoi.“ Ich schrecke ein bisschen zusammen, dann stehe ich
schnell auf, gehe vor zum Podium, steige die drei Stufen ohne zu
stolpern hinauf und stelle mich neben das Harmonium auf den
weißen Punkt, den jemand mit Kreide für mich da hin gemalt hat.
Jetzt wird es ganz still im Saal, manche hüsteln rasch noch
einmal oder schnupfen ins Taschentuch. Alle sehen mich an. Frau
Bachmann greift sacht in die Tasten und spielt die Melodie von
„Gott ist die Liebe“ zur Einstimmung. In mir entsteht ein
seltsames Gefühl, mir ist, als würde ich schweben, als würde ich
von der Melodie und dem Atem der Leute, die mich feierlich
anstarren und auf das Gedicht warten, getragen. So etwas Schönes
habe ich noch nie erlebt. Ich bin dann auch kein einziges Mal
stecken geblieben und kam erst wieder richtig zu mir, als alle
klatschten. Dann sah ich sie. Sie saß stocksteif in der dritten
Reihe und rührte keinen Finger. Da packte mich Zorn, und ich
wollte sie zwingen, für mich in die Hände zu klatschen. Kurz
entschlossen begann ich mein Gedicht noch einmal von vorn.
Wieder klatschten alle Beifall, nur Schwester Martha nicht.
Warum klatscht sie nicht, wo doch alle anderen für mich
klatschen? Zweimal sogar. Ich habe keinen einzigen Fehler
gemacht, und da muss sie für mich klatschen, sie muss, anders
geht das nicht. Als ich noch einmal von vorn beginnen wollte,
kam Mutti eilig angelaufen und holte mich vom Podium runter.
„Was hast du dir dabei nur gedacht“, fragte sie bedrückt, „es
hat doch alles beim ersten Mal so gut geklappt?“ Auch Oma
rutschte unruhig hin und her und tuschelte Mutti zu: „ Du kannst
ihr nicht alles durchgehen lassen.“ Als alles vorbei war, stand
die Schwester Martha neben dem Prediger an der Tür und reichte
jedem die Hand zum Abschied. Sie fixierte mich schon von weitem
wie eine Spinne, die eine unschuldige kleine Fliege noch ein
bisschen im Netz zappeln lässt, bevor sie mit der Klatsche
ausholt. Es gab kein Entrinnen, ich musste an ihr vorbei, ihr
die Hand reichen und einen artigen Knicks machen. Sie lächelte
scheinheilig, beugte sich zu mir herunter und flüsterte mir ins
Ohr: „Mit mir treibst du deine Spielchen nicht, du kleine
aufmüpfige Göre. Merk dir das.“ Sie ist wirklich eine Hexe. Ich
würde Schwester Martha ihre Schlechtigkeit nie verzeihen und in
unser Altenstübchen würde ich sie nie einlassen. Nie! Als die Großel mir das von dem verlorenen Sohn erzählt hat, hat sie
nicht gewusst, dass es so schlechte Schwestern auf der Welt
gibt, wie die Schwester Martha eine ist. Ich bin mir ganz
sicher, wenn die Schwester Martha verloren geht, wird sich
keiner freuen, wenn sie wiedergefunden wird.
Der Ursprung der Flügel aber von dem Mädchen in Schwester
Marthas Geschichte ist mir noch immer unerklärbar. Melli hat
gesagt, ihr ist es egal, ob es Engel gibt, im Märchen
vielleicht, sie hat noch keinen gesehen, und Flügel haben nur
die Vögel. Jutta Röckl hat noch nie etwas von Engeln gehört. Sie
war auch noch nie in einer Kirche innen drin. Im Bett ist mir
dann eingefallen, dass ich etwas Wichtiges nicht bedacht habe:
Das kleine Mädchen hatte einen Buckel. Da fiel es mir wie
Schuppen von den Augen. Die Flügel stecken in den Buckeln, da
haben sie genug Platz, und nur wer auf Erden einen Buckel hat,
kann ein Engel werden und in den Himmel fliegen. Im nächsten
Augenblick lief es mir eiskalt den Rücken runter. Ich sah vor
mir die spindelige Schwester Martha, wie sie sich zu mir
herunter beugt, um mir was Gemeines zu sagen, und dabei wird ihr
Rücken immer krummer und krummer, so krumm wie der vom Fips,
wenn der in unserem Garten ein Schläfchen gemacht hat und
aufsteht und sich reckt und streckt und rund macht. Entsetzt
musste ich mir eingestehen, dass diese Erkenntnis schreckliche
Auswirkungen für mich haben kann, denn wenn die Schwester Martha
in den Himmel kommt, dann ist der ganze schöne Himmel für mich
futsch, dann will ich da nicht hin, nie und nimmer, zumindest
nicht in die Gruppe, in der sie herumflattert.
Mutti hat entschieden, dass ab sofort nur noch Geschichten
erzählt werden, die sie genehmigt hat und die meinem Alter
entsprechen und dass zwischen Tag- und Nachtgeschichten
unterschieden wird. An diese Entscheidung müssen sich auch Oma
und Tante Marie halten. Abends oder auch nachts, wenn wir wegen
eines Fliegeralarms nicht schlafen können, dürfen nur
Geschichten mit gutem Ausgang erzählt werden, damit ich mich
später unter meiner Bettdecke nicht fürchten und vor lauter
Angst brechen muss, wie das schon einige Male passiert ist.
Mutti will auch, dass ich die Geschichten mit eigenen Worten
wiedergebe, damit sie daraus erkennen kann, was sich in meinem
Kopf abspielt. Das ist ein schönes, neues Spiel und macht mir
Spaß, denn ich erzähle gern und frage gleich, welche Geschichte
es denn bitteschön sein soll. Sie sagt: „Wähle selbst.“ Das ist
schon schwieriger. „Zwei Geschichten“, frage ich vorsichtig,
„die vom Kilimandscharo und die von Jairus Töchterlein?“ Ich
soll mich für eine von beiden entscheiden.
Die Geschichte vom Kilimandscharo stammt aus dem Buch mit den
prächtigen, farbigen Bildern über Deutsch-Ostafrika, das ich nur
mit frisch gewaschenen Händen anfassen darf. Der Kilimandscharo
ist fast sechstausend Meter hoch und der höchste Berg von
Afrika. Sechstausend Meter, das ist höher als der Kirchturm und
höher als die Wolken. Vor vielen, vielen Jahren hat der Berg
Feuer ausgespuckt. Wenn man ganz oben auf der Spitze angekommen
ist, kann man in ein tiefes Loch sehen, den Krater. Vom Krater
reicht ein Gang tief in die Erde hinein, wahrscheinlich bis zur
Hölle. Weil der Gang sehr gefährlich ist, heißt er Schlund. Die
Hölle beginnt dort, wo das Feuer immer und ewig brennt. Manchmal
wird es da unten so heiß und eng und qualmig, dass es das Feuer
nicht mehr aushält und abhaut. Dann kriecht es mit Gebrüll durch
den Schlund nach oben, und der Berg spuckt es in weitem Bogen
aus, über das ganze Land hinweg, und alles, was es erwischt,
verglüht zu Schutt und Asche, auch die Menschen, aber um die ist
es nicht schade, weil sie meistens Kannibalen sind, sich
bekriegen und gegenseitig auffressen. Nicht nur Berge, auch
Drachen und Flugzeuge können Feuer spucken und alles
kaputtmachen…
„Ich erzähle die von Jairus Töchterlein“, entscheide ich. „Das
holde, liebliche und folgsame Töchterlein des Jairus war
plötzlich gestorben. Alle weinten sehr um das Mädchen, am
meisten aber weinte der Vater Jairus. Er konnte sich nicht
beruhigen und wehklagte viele Tage und Nächte lang. Da kam der
Herr Jesus des Weges und hörte von dem traurigen Geschehen. Er
betrat das Haus des Jairus, ergriff die Hand des bleichen
Mädchens und befahl ihm: Stehe auf! Das Töchterlein öffnete die
Augen, sah erstaunt um sich, lächelte und fragte: Was ist
geschehen, und warum guckt ihr so traurig? Es konnte nicht
begreifen, warum so viele Leute herumstanden und weinten, wo es
ihm doch gut ging und es nur ein bisschen geschlafen hatte.“
An dieser Stelle steigen immer wieder Zweifel in mir auf, obwohl
ich alle, besonders aber Tante Marie, über die Auferweckung
ausgefragt habe. Sie hat gesagt, dass der Herr Jesus damals
solche Sachen gemacht hat, um den Menschen zu beweisen, dass er
alles kann, auch das scheinbar Unmögliche. Der Haken an der
Sache ist, dass Menschen, die jetzt sterben, erst eine Weile tot
bleiben und warten müssen, bis sie mit der Auferstehung dran
sind. Wir werden alle erst in der großen Schlacht Gottes aus den
Gräbern herausgeholt, und die wird noch schlimmer sein als der
Krieg jetzt. Da werden die guten Menschen von den schlechten
Menschen aussortiert. Die guten Menschen dürfen wieder leben,
die schlechten aber werden für immer ausgerottet. Mutti möchte
nicht, dass Tante Marie sich so krass ausdrückt, aber Tante
Marie tut das nur, weil sie will, dass ich auf mich aufpasse und
im Ernstfall nicht aus Versehen unter die schlechten Menschen
gerate. Sie meint es gut mit mir. Trotzdem möchte ich Mutti
etwas fragen.
„Ist tot sein wirklich nur wie schlafen?!
„So kann man es sich vorstellen. Ja“
„Und kann der arme Herr Jesus wirklich jeden von den Toten
auferwecken?“
„Das kann er. Das hat er mehrfach bewiesen.“
„Aber er ist nicht mehr da.“
„Er wird wieder zu uns Menschen zurück kommen – weil er uns
liebt.“
„Könnte er mich dann auch auferwecken?“
„Ja, sicher.“
„Dich auch?“
„Mich auch. Jetzt wird aber geschlafen. Und sag nicht immer: der
arme Herr Jesus. Er ist nicht arm, er ist reich und voller Güte,
und wir alle können dankbar sein, dass er für uns auf die Welt
gekommen ist.“
„Tante Marie sagt, er ist für uns gestorben. Mit viel
Schmerzen…“
„Beides, mein Kind. Vor allem aber ist er für uns vom Himmel
herunter auf die Erde gekommen - aus Liebe zu den Menschen.“
Von solchen Wundern zu hören, tut gut, besonders vor dem
Einschlafen. Im Schlafzimmer haben wir nur eine Kerze brennen.
Sie verbreitet mehr Schatten als Licht. Das macht ganz heimelig.
Ich kann nicht anders, ich muss Mutti noch einmal umarmen. Dabei
stecke ich meine Zunge heraus, mache sie spitz und lang und
falte sie zusammen und versuche, mit meiner Zunge auf Mutti
Zunge zu tippen. Bei dem Spiel muss man schnell sein und gut
aufpassen. Ich spiele es nur mit Mutti. Es ist unser Spiel und
geht so: Mund auf, Zunge raus, Zunge rein, Mund zu. Immer, wenn
Mutti ihre Zunge nicht schnell genug versteckt und die warmen,
weichen Zungenspitzen aufeinandertreffen, habe ich gewonnen und
rufe: „Peng, getroffen!“
|
|
|
|
|
|
|
3
Lirum Larum
Löffelstiel
Wir sind arme Menschen. Arm ist, wer nicht
genug zu essen hat. Die Ärmste in unserer Familie ist die Oma, denn
sie hat immer Hunger. Von dem vielen Hunger bekommt sie Magenkrämpfe.
Sie wird dann grüngelb im Gesicht und jammert: „Ich muss mich
übergeben.“ Das Schlimme ist, dass sie nichts zum Übergeben im Magen
hat, und deshalb gehen die Krämpfe auch nicht weg. Vielleicht kommen
die Schmerzen aber auch von den Abfällen, die sie sich zubereitet,
meistens Kartoffelschalen mit bisschen Salz überstreut. Aus den
Schalen hat sie sogar Kuchen gebacken. Der Kuchen sieht schwarz aus
und riecht und schmeckt eklig. Die paar Löffel Kloßbrühe, die Oma
sonntags aus Pans Kochtopf abbekommt, sind hingegen ein Festschmaus
für sie, und ich bin heilfroh, dass Omas Magen so schlau ist, dass er
den ekligen Kuchen von der sämigen Brühe unterscheiden kann, denn sie
sagt: „ Die Brühe ist eine Wohltat für meinen empfindlichen Magen.“
Mutti ist eine wahre Hungerkünstlerin, denn sie beklagt sich nie. Sie
kann fast nur von Luft leben und behauptet sogar: „Gute Luft ist ein
echter Genuss.“ Manchmal schnappen wir gemeinsam nach großen Happen
Luft und schlürfen die unsichtbare Köstlichkeit tief in uns hinein.
Luft kann sehr gut schmecken, zum Beispiel nach dem prachtvollen
Inhalt von Pans Fleischtopf, wenn die beim Braten das Fenster offen
haben und der Wind günstig steht. Der Duft kommt dann direkt zu uns
herüber und huscht in unser Fenster rein. Wir stehen hinter dem
Vorhang versteckt, atmen tief ein und aus und tun uns an den besten
aller Düfte laben. Oma verrät mir mit verklärter Stimme, um was für
eine Fleischsorte und Zubereitungsart es sich handelt. Sie hat eine
gute Nase und weiß das noch von vor dem Krieg. Ich kann inzwischen
sicher unterscheiden, ob es bei Pans Hammel, Sauerbraten oder Rouladen
gibt, nur wie das alles aussieht und schmeckt, das weiß ich nicht. In
der Kloßbrühe, die Melli sonntags nach dem Essen zu uns rüberbringt,
stochere ich dann herum, weil ich mir wünsche, dass wenigstens ein
ganz kleines Stückchen Braten darin herumschwimmt – vergebens. Das ist
ärgerlich und kommt daher, weil die Klöße nicht in dem gleichen Topf
zubereitet werden wie das Fleisch. Oma sagt streng: “Dass du mir Melli
gegenüber ja nichts von dem Braten erwähnst! Pans könnten dich für
undankbar halten, und was ist, wenn sie die Brühe jemand anderem
schenken?“ Das wäre wahrlich schlimm. Auf meinen Kloß mit den drei
feinen Rösteln mitten drin möchte ich auf keinen Fall verzichten.
Der
wertvolle Kloß wird von Mutti behutsam auf einen Teller gelegt und mit
zwei Gabeln in kleine Stückchen gerissen, eins bekommt Oma, eins Mutti
und alle anderen ich. Mutti sitzt dann neben mir und passt auf, dass
ich beim Essen nichts falsch mache. Ich muss ganz langsam essen und
jeden Bissen zweiunddreißigmal kauen, damit er richtig durchspeichelt
wird. Zum Schluss ist dann alles dünn wie Wasser und rutscht fast ohne
Schlucken runter. Der Höhepunkt ist erreicht, wenn ich die Rösteln in
den Mund stecken darf, denn dann sagt Oma meistens: „Nun spring mal
nach oben zu Tante Marie, Grit“, was ich mir aus gutem Grund nicht
zweimal sagen lasse.
In
Tante Maries Schlafkammer, auf der Kommode hinten in der Ecke, steht
nämlich immer ein Schälchen bereit mit was Gutem drin für mich, mal
ein Keks, mal ein Himbeerbonbon, mal ein Apfel oder ein Schnapsglas
voll Dickmilch mit Zucker oben drauf. Jedes Mal, wenn ich mich auf die
Fußspitzen stelle und mit der Hand in die Schale lange, um den
Leckerbissen zu ertasten, spüre ich eine begehrliche Spannung in mir.
Erst wenn ich den Leckerbissen erraten habe, nehme ich ihn heraus,
beschnuppere ihn rundum und lasse ihn genüsslich in mir verschwinden.
Das ist ein großer Augenblick!
Wovon sich Tante Marie am Leben erhält und wo sie die Leckerbissen für
mich auftreibt, ist nicht zu erklären. Es muss dabei mit einem Wunder
oder nicht mit rechten Dingen zugehen. Oma mutmaßt, dass sie eine
geheime Quelle hat oder sogar eine Beziehung zum Feind, aber Mutti
schüttelt tadelnd den Kopf. Oma soll nicht so leichtsinnig daherreden,
denn jeder Mensch hat den Drang zu überleben und das Recht und sogar
die Pflicht, sich einen Kopf zu machen, wie er das zuwege bringt, und
man muss es Tante Marie hoch anrechnen, dass sie dabei immer an die
Kleine denkt. Die Kleine bin natürlich ich. Und ich habe auch
mitbekommen, wie Oma geantwortet hat: „Na dann, Elfrun, die nächste,
die sich was einfallen lassen muss, bist du. Lange steh ich das nicht
mehr durch.“
Das
Wort „Quelle“ hat sich in meinem Kopf eingenistet und stellt mir
Fragen. Was hat Oma wohl damit angedeutet? Und warum hat Tante Marie
so eine Quelle und warum haben wir keine? Das möchte ich für mein
Leben gern herausbekommen, zumal solch eine Quelle eine feine Sache
ist, wenn sie sprudelt. Und vielleicht ist es so, dass bei einer
solchen Quelle noch viel mehr von den feinen, roten Himbeerbonbons zu
entdecken sind… Dann könnte ich Melli jeden Sonntag eins schenken,
wenn sie mit ihrer Brühe ankommt. Die würde Augen machen!
Tante Marie war gerade mit Bibel lesen beschäftigt, als ich oben
ankam. Da ich sie dabei nicht stören darf, krabbelte ich auf allen
Vieren um sie herum und zupfte sie so lange am Rocksaum, bis sie mich
endlich wahrnahm und das Buch aufgeschlagen beiseite legte.
„Na,
Kind, du hast doch etwas auf dem Herzen?
„Ich, ähh, ich… Hast du auch immer so großen Hunger wie Oma?“
„Es
fragt sich nur worauf, auf leibliche oder geistige Speise?“
„Auf
Himbeerbonbons und Fleischbraten.“
Tante Marie sah mich durchdringend an. Mir wurde ein bisschen Bange.
Ob ich das hätte lieber nicht fragen sollen? Aber jetzt lächelte sie
freundlich, umfasste mich und zog mich zu sich auf den Schoß. Mit der
freien Hand griff sie nach der Bibel. Die Bibel ist richtig schön
bunt, denn auf jeder Seite sind wichtige Sätze unterstrichen - rot,
blau, grün und gelb. Sie blätterte ein bisschen darin herum und
murmelte: „Gleich werden wir es haben.“ Ich war sehr gespannt und
wurde deutlicher.
„Oma
sagt, du hast eine geheime Quelle.“
„Soso. Da wollen wir die Quelle gleich mal anzapfen. Hier steht es.
Matthäus sechs. Hör gut zu, Grit, was der Herr denen gesagt hat, die
sich immerfort Sorgen um ihr leibliches Wohl machen: Seht die Vögel
unter dem Himmel an, sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln
nicht in die Scheunen, und euer himmlischer Vater ernährt sie doch.“
Sie machte eine Pause, sah mich bedeutungsvoll an und las weiter:
„Schaut die Lilien auf dem Felde, wie sie wachsen, sie arbeiten nicht,
auch spinnen sie nicht…“ Wieder traf mich einer ihrer bedeutungsvollen
Blicke, ehe sie fortfuhr: „Oh, ihr Kleingläubigen, darum sollt ihr
nicht fragen: Was werden wir essen? Was werden wir trinken? Euer
himmlischer Vater weiß, was ihr alles braucht.“ Tante Marie hob jetzt
den Zeigefinger ihrer rechten Hand in Richtung Zimmerdecke, schüttete
ihn heftig hin und her und sprach jedes einzelne Wort mit Nachdruck:
„Trachtet aber zuerst nach dem Reich Gottes und seiner Gerechtigkeit,
so wird euch das alles zufallen. Darum sorget nicht für morgen, denn
der morgige Tag wird für das Seine sorgen.“ Sie klappte die Bibel zu.
„Hast du das verstanden, Kind?“
„Nein, ja, nein.“
„Gott will, dass du deine Zeit nicht damit vergeudest zu barmen und
dir Sorgen zu machen. Er wird für dich sorgen. Du musst ihm nur
vertrauen, von ganzem Herzen vertrauen.“
„So
wie du?“
„Ja,
so wie ich. Vertrauen, das ist die Bedingung.“
„Dann ist das doch ganz einfach.“
„So
einfach ist das nicht. Wenn es so einfach wäre, würden alle Menschen
Gottes Wort befolgen, und wir hätten diesen schrecklichen Krieg nicht,
auf der Erde würde Friede sein, und die Menschen würden in einem
herrlichen Garten leben. Satan, der Teufel, tut alles, um die
Menschen…“
Mir
war plötzlich ganz leicht ums Herz geworden, denn ich fühlte in mir
den Drang, Tante Maries Worte in Taten umzuwandeln. Deshalb hörte ich
nicht weiter hin, was sie von Satan, dem Teufel, zu berichten hatte,
sondern entwand mich ihren Armen und trollte davon, runter in unsere
Wohnung, wo ich mich verkriechen und ungestört nachdenken wollte, wie
und wo die Quelle zu finden ist, aus der die ganzen Herrlichkeiten
sprudeln, die der liebe Gott denen in Aussicht stellt, die ihm von
ganzem Herzen vertrauen.
Bei
uns unten herrschte aber nicht annähernd so fröhliche Stimmung wie bei
Tante Marie oben im Altenstübchen. Oma schluchzte, und Mutti sprach
begütigend auf sie ein, aber das nutzte nichts, weil sie wieder ihre
Krämpfe hatte. In diesem Zustand war Oma kein schöner Anblick, und ich
fürchtete mich vor ihr fast genau so sehr wie vor der kranken Frau
Sperling im Erdgeschoss. Weil sie mich nicht bemerkten, blieb ich an
der Tür stehen und belauschte ihr Gespräch.
„Ich
werde wieder etwas verkaufen“, sagte Mutti
„Tu
das, Elfrun, tu das bald“, wimmerte Oma.
„Es
bleibt nicht mehr viel, woran jemand Interesse haben könnte – die
Nähmaschine, das Fahrrad, mein Ring… Wir müssen es einteilen.“
Mutti betrachtete den schmalen, goldenen Ring an ihrer rechten Hand,
drehte daran herum und zog ihn ab. Das ging ganz leicht, denn ihr
Finger war längst so dünn wie das Stöckchen, das Hänsel der Hexe
durchs Gitter gesteckt hat. Sie seufzte: „Was wird Fritz dazu sagen?“
„Der
Ring ist zu ersetzen“, befand Oma. „Alles ist zu ersetzen, nur das
Leben nicht.“
„Das
ist wahr“, sagte Mutti einsichtig und tätschelte beruhigend Omas Arm,
wobei sie sich ein wenig zur Seite drehte und mich in der Tür stehen
sah. Ihr Gesicht veränderte sich von einer Sekunde zur anderen, und
sie sagte fast fröhlich: „Grit, was hältst du davon, wenn wir uns
einen richtigen Festschmaus bereiten?“ Wie rasch doch alles ging. Ich
nickte freudig mit dem Kopf, und Oma sagte schwärmerisch:
„Bratkartoffeln mit Zwiebeln und Speck, vielleicht noch ein Spiegelei,
ein paar Körner Kümmel...“
Wir
begannen sofort mit dem Pläneschmieden. Wichtig war, dass wir einen
Käufer für Muttis Ehering fanden, einen Käufer, dem der Ring
mindestens so viel wert war, wie uns die Bratkartoffeln. Da es nicht
das erste Mal war, dass Mutti etwas verhökerte, sagte sie: „Ich gehe
damit zum Stöber Franz auf den Hainberg, der hat mir bisher immer
etwas gegeben.“ Oma erwiderte: „Der Stöber Franz ist ein
Halsabschneider, aber wir haben keine Wahl.“
Gleich am nächsten Tag, die Morgenröte hing noch wie kaltes Feuer am
Himmel und der verharschte Schnee knirschte bei jedem Schritt unter
den Füßen, machten wir uns mit dem frisch polierten Ring auf den Weg
zum Stöber Franz. Der Stöber Franz war gar nicht so schlecht, wie ich
nach Omas abschätzender Bemerkung befürchtet hatte. Na ja, er sah
nicht schön aus, und eine Glatze hatte er auch und auffallend kurze
Beine, aber wenn er uns zu einem Festschmaus verhelfen konnte, dann
war er zumindest ein reicher Mann. Mutti erklärte ihm, was sie für den
Ring haben wollte. Er hörte geduldig zu, ohne ihre Rede zu
unterbrechen, betrachtete abwechselnd die Mutti und den Ring, den er
mit zwei Fingern gegen das Licht hielt, und sagte anerkennend: „Schau
an, schau an, so jung noch und schon so ein großes Töchterchen.“ Er
ließ den Ring in seine Jackentasche kullern, was ich als gutes Zeichen
deutete. Danach ging er ein paar Schritte auf Mutti zu, und Mutti ging
genauso viele Schritte zurück, so dass der Abstand zwischen ihnen
immer der gleiche blieb. Plötzlich hob Mutti die Hände vor die Brust
und tat so, als wollte sie einen Felsbrocken wegstemmen, und der
Stöber Franz sagte: „Nichts für ungut, aber du willst doch was von
mir.“ Mutti stammelte leise: „Bitte, ich bitte sie, bedenken Sie, das
Kind. Nutzen sie meine Lage nicht aus.“
Das
hatte der Stöber Franz auch nicht vor. Er sagte: „Warte hier“, und
verschwand durch die Tür in ein Zimmer, aus dem es muffig roch. Als er
wieder hereinkam, trug er eine Tüte aus Zeitungspapier in der Hand,
die er auf dem Tisch auskippte.
„Zufrieden?“
„Sieben Stück?“ Mutti wirkte ein wenig verlegen, irgendwie bedäppert.
Doch dann lächelte sie. „Danke, ich danke Ihnen.“
Vor
uns auf dem Tisch lagen die Kartoffeln, von denen wir geträumt hatten,
in voller Schönheit, sogar mit kleinen weißen Keimen dran, die man
zwar nicht essen darf, die aber, wie ich weiß, wichtig sind, wenn aus
der alten Kartoffel neue Kartoffeln wachsen sollen. Er griff noch
einmal in die Jackentasche, in der vorhin der Ring verschwunden war,
fischte ein schmales Glas mit Stöpsel heraus, deutete auf den Inhalt
und legte es zu den Kartoffeln. „Mohnöl“, sagte er, „selbst gepresst.
Seid vorsichtig, das reicht, um sich den Magen zu verderben.“
Ich
starrte bereits erwartungsvoll auf die andere Tasche, in der sich
etwas beulte. Und siehe da, auch in dieser Tasche war etwas verborgen,
was für uns bestimmt war: ein Ei. „Heute früh gelegt. Ganz frisch“,
sagte der Stöber Franz und legte das Ei vorsichtig zu den anderen
Sachen auf den Tisch. Jetzt konnte Mutti wirklich zufrieden sein, und
Oma würde ihre Meinung über den Stöber Franz gewiss ändern, wenn sie
erst von seiner Freigebigkeit erfahren hatte. Wenn man bedenkt, so
viele herrliche Esssachen für einen einzigen kleinen Glitzerring…
Oma
hatte bereits den Küchenherd angefeuert und heißes Wasser bereitet.
Die Kartoffeln konnten gleich in den Topf gesteckt werden. Wir haben
einen weißen Emailleherd mit Herdringen. Die Ringe kann man mit dem
Feuerhaken herausheben, so dass das Feuer besser an den Topf heran
kann. Auf diese Weise kocht alles schneller und man spart
Brennmaterial. Wir haben dass aber nicht nötig. Weil ich fast jeden
Tag mit Melli zum Kohlenhof gehe, haben wir einen großen Vorrat an
Briketts. Darauf bin ich sehr stolz. Mutti sagt immer wieder, dass wir
ohne meine Hilfe längst erfroren wären.
Während die Kartoffeln kochten, behielt ich unser Ei und das Gläschen
mit Öl im Blick. Beides lag friedlich nebeneinander auf dem
Küchentisch. Was nun geschah hat keiner von uns voraussehen,
geschweige denn verhindern können. Als erstes stolperte Oma über einen
ihre Füße, ich weiß nicht mehr über welchen, und fiel gegen den Tisch.
Sofort setzte sich das Ei in Bewegung und kullerte in Richtung
Tischrand. Mutti und ich sprangen gleichzeitig auf, um das Ei zu
retten. Dabei ging das Ei in Muttis Hand zu Bruch, und ich wischte aus
Versehen mit dem Ärmel das Glasröhrchen vom Tisch. Es fiel zu Boden,
zersprang und das selbst gepresste Mohnöl sickerte in die große Ritze
zwischen den Dielenbrettern, welche Vati schon bei seinem letzten
Besuch hatte zuschmieren sollen. Wir standen vor Schreck da wie die
Frau vom Lot, nachdem sie zur Salzsäule erstarrt war. Dann begannen
Oma und ich bitterlich zu weinen, und Mutti rettete die Pfatsche vom
Ei in eine Tasse und versuchte, den Rest vom Öl aufzutupfen. In einem
gewölbten Glasscherben war eine kleine Pfütze Öl verblieben, auch die
ließ sich retten. Mutti goss das Restchen gleich durch ein Sieb, um es
von Glassplittern zu befreien. Was übrig blieb, reichte nie im Leben
für drei Personen oder vier, wenn wir Tante Marie mit einrechneten.
„Ich
gehe noch einmal zum Stöber Franz und bitte ihn um etwas Öl. Das kann
er mir nicht abschlagen. Verlasst euch darauf“, sagte Mutti mit fester
Stimme. Sie nahm mich in die Arme, wischte mir die Tränen ab und
streichelte meine Wangen. „Weine nicht, Grit, es war ein Missgeschick,
eine Verstrickung von unseligen Zufällen. Da kann keiner etwas dafür.
Niemand hat Schuld.“
„Nimm mich mit“, bettelte ich, noch immer schluchzend. „Bitte, bitte,
nimm mich mit zum Stöber Franz.“
„Ich
bereite alles vor“, versicherte Oma zerknirscht. „Wenn ihr
wiederkommt, kann es gleich losgehen. Beeilt euch.“
Wir
beeilten uns. Fest entschlossen, wie Mutti es war, um das Festessen zu
retten, wagte es der Stöber Franz nicht, ihre Bitte um etwas Öl
abzuschlagen, aber ein weiteres Ei ließ es sich nicht herausleiern, da
blieb er hart. Dafür sollten wir bezahlen. Einen zweiten Ring hatten
wir aber nicht zu vergeben, der war ja an Vatis Hand weit weg in
Norwegen. Trotzdem freuten wir uns über das Öl und liefen so schnell
wir konnten nach Hause zurück, wo Oma mit den garen Kartoffeln und dem
Rest vom Ei gewiss sehnsüchtig auf uns wartete.
Bereits als wir die Haustür öffneten, drangen unangenehme Töne in
unser Ohr, und nichts Gutes ahnend fasste Mutti meine Hand fester. Um
ehrlich zu sein, es klang, als ob ganz in der Nähe jemand würgte und
kotzte. Dann hörten wir Tante Marie mit vorwurfsvolle Stimme sagen: „
Nun nimm dich aber zusammen, Johanna. Wir sind gleich auf dem Klo.“
Um
auf unser Plumpsklo zu kommen, muss man im Treppenhaus drei Stufen
nach unten gehen. Das Plumpsklo ist in einem kleinen Anbau
eingerichtet und schön luftig und geräumig und bequem zu erreichen.
Sperlings ihres ist genau darunter, aber sie können es nur über den
Hof betreten, und es stinkt dort ein bisschen, weil gleich darunter
die Odelgrube ist. Ich sitze gern auf unserem Plumpsklo, weil, wenn
ich zu lange fort bin, bekommen alle Angst um mich, klopfen an und
fragen, ob ich noch da bin. Das ist natürlich übertrieben, denn
inzwischen bin ich so groß, dass ich,wenn ich reinrutsche, in dem
langen Rohr, das runter in Odelgrube geht, stecken bleiben würde, und
eigentlich ist es mir verboten, die Tür von innen zu verriegeln, aber
ich tue es trotzdem.
Tante Marie warf uns einen Blick zu, der Bände sprach. Oma zog den
Kopf zwischen die Schultern und guckte an uns vorbei. Ihre Haltung
erinnerte mich an den Vogel Strauß in meinem Afrikabuch, von dem es
heißt, dass er bei Gefahr den Kopf in den Sand steckt und in seiner
Doofheit glaubt, dass er dann unsichtbar ist. Tante Maries Blick
folgend, erkannten wir auf der Schwelle zur Küche, im Flur und auf den
drei Stufen zum Klo verschiedene Pfützen und Klumpen, die da nicht
hingehörten. Im nächsten Augenblick begann Oma sich zu krümmen, und
während grässliche Töne aus ihrer Gurgel drangen, sprudelte ein Strahl
aus ihrem Mund genau in unsere Richtung, so dass wir fix einen Schritt
zur Seite springen mussten, um nicht getroffen zu werden.
„Mutter“, schrie Mutti entsetzt, „wie konntest du nur! Das kann doch
nicht wahr sein.“ Dann eilte sie aber Tante Marie zu Hilfe, und beide
bugsierten Oma aufs Klo. Ich huschte an ihnen vorbei in die Küche,
sorgsam bemüht, nicht in die Bratsche zu treten, und dabei kam die
Erkenntnis über den Grund des grausigen Geschehens über mich wie in
Tante Maries Bibel die Offenbarung über den Johannes. Au weia! Alles
war weg, einfach alles. Im Topf waren keine Kartoffeln mehr, die Tasse
mit dem Rest vom Pfatschei war leer, und die Schale mit dem Rest vom
Stöber Franz seinem selbst gepressten Mohnöl stand umgekippt im
Abwasch.
Oma
war zu keiner Erklärung fähig. Sie schlich sich davon in ihre Kammer
und ließ sich für den Rest des Tages nicht mehr bei uns blicken. Sie
schämte sich, weil sie schwach geworden war und mir ein Beispiel
vorgelebt hat, wie es schlechter nicht sein konnte.
Nachdem Mutti alles aufgewischt und die Wohnung gelüftet hatte, ließ
sie sich erschöpft in den Sessel fallen und sagte: „Grit, mein Kind,
nun komm mal her zu mir. Jetzt wollen wir uns unterhalten.“ Ich
kletterte flugs auf ihren Schoß und kuschelte mich an sie, denn mir
war bei der ganzen Sache nicht wohl zumute. Auch wenn Oma eine
ziemlich komische Figur abgegeben hatte, war ich doch traurig, einmal,
weil der ganze Festschmaus futsch war und auch weil wir vergessen
hatten, der Oma zu sagen, was uns der Stöber Franz mit auf den Weg
gegeben hatte, nämlich, dass man sich mit dem Mohnöl den Magen
gründlich verderben kann. Mutti war aber der Meinung, uns trifft keine
Schuld, und für Omas Verhalten gibt es keine Entschuldigung, aber
einen Grund. Sie erklärte mir den Zustand, in den man geraten kann,
wenn man lange Zeit nichts Ordentliches zu essen bekommen hat. In
diesem Zustand brennen einem die Sicherungen durch, alle Hemmungen
gehen verloren, und im Gehirn bleibt ein einziger Gedanke übrig, der
befiehlt, alles in sich hinein zu mampfen, was greifbar ist. So ist es
auch der Oma widerfahren. Ihr Hunger war so groß, dass sie weder an
ihren empfindlichen Magen noch an uns gedacht hat, nur noch: essen,
essen, essen.
Noch
im Bett vor dem Einschlafen habe ich immerzu über die arme Oma
nachgedacht und darüber, dass ich ihr helfen möchte, etwas Essbares
aufzutreiben, was ihr Kotzmagen nicht gleich wieder ausspucken muss.
Und dabei bin ich gedanklich wieder bei Tante Maries göttlicher Quelle
angelangt, die ich irgendwie zum Sprudeln bringen müsste. Nur wie wie
wie? Wie? In diesem Augenblick konnte ich nicht ahnen, wie nahe ich
einem Zufall war, der mich auf eine heiße Spur leiten sollte…
Die
Sache begann ein paar Tage nachdem Oma wieder aus der Versenkung
aufgetaucht war und mich fragte, ob ich Lust hätte, mit in die Kirche
zu kommen. Ich hatte keine Lust, denn ich wollte mit Melli zum
Kohlenhof gehen und Briketts sammeln, aber Oma verlegte sich aufs
Betteln, und da ließ ich mich breitschlagen.
„Wo
wollt ihr denn hin?“ fragte Mutti erstaunt. Es kam nicht oft vor, dass
ich mit Oma ausging, weil das meistens langweilig war oder, was noch
schlimmer war, bei der spitznasigen Schwester Martha in der
Diakonissenbude endete.
„Zu
den Adventisten zum Abendmahl“, antwortete Oma etwas unsicher.
„Wir
gehören zur Landeskirchlichen Gemeinschaft“, erwiderte Mutti. „Ich mag
nicht so gern, wenn du von einem zum anderen läufst.“
„Aber bei den Adventisten ist besser geheizt“, begründete Oma unser
Vorhaben.
Sie
hatte Recht. Bei den Adventisten im Saal war es so schön mollig warm,
dass wir den Mantel ausziehen und über unsere Kniee legen konnten. Der
Gottesdienst ist hier nicht anders als in der Gemeinschaft. Jedenfalls
konnte ich keinen Unterschied feststellen. Auch hier wird gesungen,
gebetet und zugehört, was der Herr Pfarrer für eine Geschichte
erzählt. Diesmal war es eine traurige Geschichte, die ich zudem
bereits kannte. Sie handelte davon, wie die feigen Jünger den armen
Herrn Jesus im Stich lassen und er ganz allein und verlassen in dem
Garten Gethsemane herumsitzt und den lieben Gott fragt, ob es für die
Erlösung der Menschen von ihren Sünden nicht einen besseren Weg gibt
als den, dass er dafür sterben muss. Aber es gibt keinen anderen Weg,
weil es vorherbestimmt ist, und das tut mir für den Herrn Jesus
genauso leid wie die Sache mit dem Isaak, der von seinem Vater auf dem
Altar geopfert werden sollte, bloß weil es der liebe Gott so wollte,
und beides ist ungerecht.
Wie
ich noch in Gedanken versunken dasaß und nach einer Möglichkeit
suchte, wie man den armen Herrn Jesus in letzter Minute hätte retten
können, stupste Oma mich an, deutete mit einem Kopfruck in Richtung
Gang und flüsterte: „Pass auf, jetzt kommt das heilige Abendmahl.“
Das
heilige Abendmahl geht so: In die Bankreihe wird zuerst eine flache
Schüsesel mit Brotstücken gereicht. Die sind ungefähr so groß wie die
Rösteln in Pans Sonntagskloß. Hinterher kommt ein Glas mit was Rotem
drin. Jeder nimmt zuerst ein Röstel aus der Schüssel in den Mund und
danach einen Schluck aus dem Becher und reicht beide Behälter seinem
Nachbarn weiter.
Wie
nun die Schüssel immer näher zu mir heranrückte, kam mir eine
Erleuchtung. Mit dem einen Ohr hörte ich undeutlich, was der Herr
Pfarrer vom Leib Christi berichtete, Im anderen Ohr aber hörte ich
Tante Maries Stimme von den Vögeln unter dem Himmel und den Lilien auf
dem Felde jubilieren, und da wusste ich ruckzuck: Das ist der Quell,
und er kommt geradewegs auf mich zu. Jetzt hieß es, die unverhoffte
Gunst zu nutzen und beherzt zu handeln.
Gleich nachdem ich die Schüssel überreicht bekam, rückte ich mein Bein
von Oma weg, so dass ein Schlitz zwischen uns frei wurde. Dann
täuschte ich eine ungeschickte Bewegung vor, und schon sauste die
Schüssel runter auf den Fußboden. Oma und ein paar Nachbarn zur
rechten und linken Seite stießen einen spitzen Schrei aus. Ich aber
war längst unten auf dem Fußboden und sammelte die Brotkrumen auf.
Glücklicherweise hatte ich zu Hause vergessen, meine Schürze
auszuziehen und noch glücklicherer Weise hat die Schürze vorn in der
Mitte eine tiefe Tasche, ein Umstand, der sicher vom lieben Gott
gewollt war. Als ich wieder auftauchte und das Tablett an Oma
weiterreichte, fielen ihr fast die Augen aus dem Kopf und ihre Ohren
färbten sich feuerrot. Von dem roten Saft hat sie in der Aufregung
nicht einmal genippt.
Auf
dem Nachhauseweg verdrückte Oma, ohne auch nur einen Ton über die
gelungene Aktion zu verlieren, einen Krumen nach dem anderen, und ich
wachte darüber, dass sie die Krumen nicht runter schlang, sondern
jeden einzelnen ordentlich kaute, zweiunddreißigmal. Als unser Haus in
Sichtweite kam, blieb sie stehen, beugte sich zu mir hinunter, hob mit
dem Zeigefinger mein Kinn an, so dass ich ihr in die Augen schauen
musste, und sprach mit brüchiger, fast flehendlicher Stimme: „Kind,
versprich mir, zu niemandem ein Wort. Zu niemandem!“ Ich versprach es,
was sie sehr zu erleichtern schien. Mir macht ein Geheimnis mehr oder
weniger nichts aus, ganz im Gegenteil, sie haben etwas Besonderes
irgendwie Prickelndes an sich, was mir Freude bereitet. Von nun an
studierte Oma alle Kirchenblättchen sehr sorgfältig, und wir zogen ein
um das andere Mal los, sogar zu den Katholiken, wo es ein bisschen
anders zuging, aber das lernten wir schnell. Oma blühte richtig auf,
was sogar Mutti bemerkte und freudig zum Ausdruck brachte.
Mit
der Zeit aber wurde Mutti aus zwei Gründen stutzig. Erstens wunderte
sie sich darüber, dass ich darauf bestand, mit der Schürze in die
Kirche zu gehen, und zweitens konnte sie sich nicht erklären, warum
ich so oft und dazu noch freiwillig mit der Oma loszog, wo ich doch,
was jeder wusste, nicht mit Sitzfleisch gesegnet war. Der Grund für
unsere zahlreichen Kirchgänge kam aber nicht durch sie ans Tageslicht,
sondern durch Tante Marie.
Als
ich Oma einigermaßen herausgepäppelt hatte, kam mir die Idee, auch
Tante Marie eine Freude zu bereiten. Schließlich hatte ich den Tipp
mit dem Gottvertrauen und der Quelle von ihr. Deshalb gab ich Oma
nicht mehr alle Brotkrumen zu essen, sondern sparte ein paar davon in
meiner Schürzentasche auf, die ich dann Tante Marie heimlich aufs
Kopfkissen legte, damit sie abends eine Überraschung und ein
Betthupferl hat. Das ging einige Male gut. Doch eines Tages ertappte
mich Tante Marie bei frischer Tat und sagte freundlich: „Da haben wir
ja endlich unser kleines Heinzelmännchen.“ Und weil sie immer allen
Dingen auf den Grund geht, verwickelte sie mich geschickt in ein
Gespräch über Essereien. Ich dachte sofort an mein Versprechen,
presste die Lippen fest aufeinander und gab keinen Pieps v on mir. Da
sagte Tante Marie völlig überraschend: „Wer so verbissen schweigt, der
hat etwas zu verbergen. Heraus damit.“
„Nein, nichts“, sagte ich mit schlauem Augenzwinkern. „Es ist vom
himmlischen Vater. Aus seiner Quelle.“
Da
wurde sie erst richtig neugierig. Und weil ich eitel war und von ihr
dafür gelobt werden wollte, wie gut ich ihre Worte verstanden und
umgesetzt hatte, wurde ich leichtsinnig und vergaß ein wenig das
Versprechen, das ich Oma gegeben hatte.
„Matthäus sechs“, sagte ich verschmitzt und hoffte, dass es endlich
klick bei ihr machte. Und wirklich, jetzt konnte man richtig sehen,
wie es hinter Tante Maries Stirn zu wirbeln begann.
„Hat
es etwas mit euren häufigen Kirchgängen zu tun?“
„Ja,
damit hat es zu tun.“
„Wird dort Brot und Wein gereicht?“
„Nur
Brot und roter Saft, aber den trinke ich nicht, weil ich nicht aus
Gläsern trinken darf, aus denen vorher andere getrunken haben.“
„Schon gut. Das reicht“, sagte Tante Marie, und ich bemerkte, dass
sich ihr Gesicht in ganz kurzer Zeit farblich verändert hatte,
irgendwie ganz bleich war sie geworden – weiß wie ein Bettlaken. Noch
ehe ich etwas Nettes sagen konnte, drehte sie sich um, rannte die
Treppe hinunter, öffnete ohne anzuklopfen die Tür und rief erregt:
“Johanna! Ich kann nicht fassen, was ich von dem Kind gehört habe. Ich
kann es nicht fassen.“
Alsbald standen wir alle um die völlig außer sich geratene Tante Marie
herum und Mutti fragte beschwichtigend: „Was ist denn nun schon wieder
passiert? Wenn ich bitten darf, langsam und der Reihe nach.“
„Hast du denn nichts von dem Treiben gemerkt, Elfrun?“ Tante Marie
wandte sich Mutti zu. „Ich kann dir nicht sagen, wie sie es anstellt,
aber sie benutzt das Kind skrupellos, um sich am Leib Christi zu
vergehen. Sie missbraucht das heilige Abendmahl in schamlosem
Eigennutz, um ihre leiblichen Begierden zu stillen. Das ist
barbarisch, das ist…“ Tante Marie schnappte nach Luft bevor sie die
furchtbaren Worte in den Raum schmetterte, die mich so erschrecken
ließen wie ich noch nie zuvor in meinem Leben erschrocken war. „…das
ist übelster Kannibalismus.“ Und zu Oma gewandt fuhr sie fort: „Für
das Kind kann ich um Vergebung flehen. Es ist unschuldig. Aber für
dich, Johanna, kann ich nichts tun. Du hast dich wissentlich zum
Werkzeug Satans machen lassen.“
Mir
war ganz schlecht geworden. Ich hatte Angst, dass sie sich hauen. Bei
dem Wort Kannibalismus habe ich angefangen zu weinen. Tante Marie hat
Oma und mich Menschenfresser genannt, und die gibt es doch nur bei den
Wilden, und die Wilden fressen nur ihre Feinde, niemals ihre Freunde,
und wir haben auch nichts von den armen Herrn Jesus abgefressen, nur
ein paar Brotkrumen und…
„Schluss jetzt“, rief Mutti energisch. „Kein Wort mehr vor dem Kind.
Seht ihr denn nicht, wie es zittert.“ Sie kam endlich zu mir und legte
den Arm um mich. Tante Marie murmelte im Hinausgehen: „Johanna,
Johanna, wie konnten wir uns geistig nur so weit von einander
entfernen.“ Oma hatte Zuckungen im Gesicht und schlich wie ein
verprügelter Hund in ihre Kammer. Ich werde nie wieder ein Geheimnis
verraten, nie wieder.
Als
wir in der Nacht wegen Fliegeralarm nicht schlafen konnten, nutzte
Mutti die Zeit, um mir den Sinn vom heiligen Abendmahl zu erklären.
Der Sinn ist, dass der Herr Jesus wollte, dass er von den Jüngern und
allen anderen Menschen nicht vergessen wird, nachdem er für alle
gestorben ist. Deshalb dachte er sich etwas Besonderes aus. Er nahm
ein Brot, brach es, gab allen ein Stück zu essen und sagte: Das ist
mein Leib. Dann goss er Wein in einen Kelch, gab allen davon zu
trinken und sagte: Das ist mein Blut, das für euch vergossen wird.
Auch wenn seither viele Jahre vergangen sind, ist der Brauch erhalten
geblieben. Alle Menschen, die an den armen Herrn Jesus glauben, nehmen
zu seinem Gedenken einmal im Jahr Brot und Wein zu sich. Trotzdem
bleibt Brot Brot und Wein Wein. Das mit dem Leib und dem Blut stellen
sich die Menschen nur in Gedanken vor. Auch handelt es sich bei dem
richtigen Abendmahlbrot um ein besonderes, nämlich um ein ungesäuertes
Brot, und das ist ein Brot, das nicht mit Hefe gebacken ist. Oma und
ich haben aber mit Sicherheit nur Brot gegessen, das mit Hefe gebacken
wurde, und das gilt nicht als Leib. Tante Marie ist somit im Unrecht
und müsste sich eigentlich dafür entschuldigen, dass sie uns
Kannibalen geschimpft hat. Mutti meinte aber, ich soll ihr nicht noch
damit kommen und meinen Mund halten, damit Gras über die leidige
Angelegenheit wachsen kann. Auch musste ich ihr versprechen, meine
Finger für immer von den gesäuerten Kirchenkrumen zu lassen, einerlei
wie groß der Hunger und damit die Versuchung ist, dem ein bisschen
abzuhelfen.
„Versprich mir das, Grit.“
„Wie
geht das?“
„Was
meinst du?“
„Wie
soll da Gras darüber wachsen?“
„Ach
das. Das ist eine Redensart. Gras braucht Zeit zum Wachsen, und Tante
Marie benötigt Zeit, um sich zu beruhigen. Sie nimmt alles sehr ernst,
was mit ihrem Glauben zusammenhängt.“
„Hat
sie einen anderen Glauben als Oma und du?“
„Nein, im Grunde nicht. Wir glauben alle an den einen Gott im Himmel
und an seinen Sohn, Jesus Christus, der für uns gestorben und wieder
auferstanden ist.“
Vor Erleichterung tat ich einen tiefen Atemzug. Einen Moment hatte ich
befürchtet, dass es noch eine Menge andere liebe Gotts gibt und Tante
Marie einen für sich ganz allein hat, den sie Jehova nennt.
„Heiliges Ehrenwort“, sagte ich und fügte als Verstärkung hinzu: „Ich
verspreche es beim Leib vom armen Herrn Jesus.“
„Dein einfaches Ehrenwort genügt mir“, sagte Mutti, schüttelte ein
wenig missbilligend den Kopf, wahrscheinlich, weil ich wieder armer
Herr Jesus gesagt hatte, schloss dabei kurz die Augen und lächelte
ein ganz klein wenig. Trotzdem denke ich, dass es für uns besser wäre,
wenn wir alle bei den Bibelforschern wären, oder bei den
Landeskirchlichen oder bei den Adventisten oder meinetwegen auch bei
den Katholiken und jeder für sich irgendwo, denn dann gäbe es weniger
Streit in unserer Familie.
Alles war wieder gut. Im Moment jedenfalls.
|
|
|
4
Peng getroffen
Wir haben jetzt immer öfter Fliegeralarm,
manchmal am Tag, aber meistens in der Nacht. Wenn die Sirenen nachts
losheulen, werde ich geweckt und angezogen. Dann sitze ich mit Mantel,
Mütze und Straßenschuhen auf dem Bett, weil wir ja immer damit rechnen
müssen, dass ein Flugzeug aus Versehen eine Bombe verliert und wir fix
ausreißen müssen. Manchmal schlafe ich mitten im Fliegeralarm wieder
ein und wache erst auf, wenn alles vorbei ist und die Sonne zum
Fenster hereinschaut. Mutti bringt es nicht übers Herz, mich wegen
der dicken Sachen aufzuwecken. Das ist gut und nicht gut zugleich,
denn am nächsten Tag fühle ich mich nicht gesund, schwitze und friere
abwechselnd und habe zu nichts Lust.
Wir
bleiben bei Fliegeralarm immer in der Wohnung. Fast alle anderen Leute
gehen in den Keller oder in den öffentlichen Luftschutzraum im
Gaswerk. Im öffentlichen Luftschutzraum kann man auch sitzen, wenn
kein Alarm ist, denn er ist gleichzeitig eine Wärmestube für Menschen,
die keine Briketts mehr haben und deshalb in ihrer eiskalten Wohnung
erfrieren müssten.
Unsere kleine Stadt ist nicht leicht zu finden. Sie liegt in einem Tal
versteckt und ist von Bergen und Wäldern umgeben. Nachts darf auf den
Straßen und in den Häusern kein Licht brennen. Es ist überall finster
und still, fast so, als wären wir schon alle gestorben. Nur Tante
Marie hört man ab und an oben im Altenstübchen durch die Wohnung
schleichen, weil die Dielenbretter gespenstig knarren.
Frau
Pan hat uns schon mehrmals angeboten, dass wir zu ihnen rüber in den
Keller kommen sollen, weil unser Keller nichts taugt und keiner mehr
rauskommt, falls das Haus darüber zusammenkracht. Ich wäre auch viel
lieber drüben bei Pans als angezogen auf dem Bett zu sitzen, während
Mutti die meiste Zeit am Fenster steht und den Himmel beobachtet. In
Pans Keller wäre der Fliegeralarm nicht so langweilig, denn ich könnte
mit Melli zusammen sein und mit ihr spielen. Manfred Sperling von
unten im Erdgeschoss geht jedes Mal rüber. Ihn könnten wir nach dem
Teufelszeug ausfragen, denn wir wüssten gar zu gern, wo er das
versteckt hat. Bisher hat er mir nur erzählt, wie sehr er es knallen
lassen kann, wenn er will, fast so laut, dass alle denken, es sei eine
Bombe eingeschlagen. Ich weiß, dass er manchmal allein im Waschhaus
ist und den Riegel vorschiebt. Vom Waschhaus führt eine Maueröffnung
in eine kleine, muffig riechende, fensterlose Höhle, die früher eine
Räucherkammer gewesen sein soll, und ich vermute, dass dort das
Versteck sein könnte, aber so gern ich auch möchte, ich traue mich
nicht hineinzukriechen, denn es ist drinnen stockfinster und bestimmt
voller Spinnen.
Heute war so ein Tag, wie ich ihn nicht leiden kann, denn in der Nacht
war wieder Fliegeralarm gewesen. Zu allem Übel war die Schwester
Martha aufgekreuzt und saß seit einer Ewigkeit mit Oma in der Küche.
Ihre Quietschstimme drang bis zu uns ins Wohnzimmer und nervte auch
Mutti, die ungeduldig auf die Uhr sah, sich aber nicht traute, die
Schwester rauszuekeln.
"Komm Grit, wir gehen mal schnell rüber zum Ditschens Willi und
sprechen mit ihm über den Pflaumenbaum", sagte sie ganz unerwartet.
Gemeint ist das Wunder Gottes oben im Garten am Zaun, das ein bisschen
hinüber auf das andere Grundstück gewachsen ist, was den Ditschens
Willi zu der Drohung veranlasst hat, ihm die Wurzeln abzuschlagen.
Ich
erschrak. Gerade gestern Abend haben Melli und ich dem Ditschens Willi
eins ausgewischt, wie wir es uns vorgenommen hatten. Na ja, bei mir
ist nichts gekommen, aber Mellis Bächlein ist mindestens fünf Stufen
runter gelaufen. Das könnte noch nicht entdeckt und weggewischt worden
sein. Selbst wenn es noch zu sehen wäre, wer sollte auf uns kommen?
Uns hat keiner gesehen. Und irgendwie war ich auch neugierig zu sehen,
wie die Treppe bei Tageslicht aussah.
"Ich
bin gleich fertig", rief ich Mutti zu. Mein neuestes Lieblingsspiel
ist, Stecknadeln mit bunten Köpfen nach Farben zu sortieren und so ins
Nadelkissen zu stecken, dass ein Blümchenmuster entsteht.
Genau wie bei uns sind es im Nachbarhaus sieben Stufen von der Straße
bis zur Haustür. Es war nicht schwer zu erkennen, was von Mellis
Rinnsal übrig geblieben ist - alles, denn in der Nacht war es
angefroren. Muttis Blick fiel auch gleich darauf.
"Welches Ferkel hat sich denn hier vergessen", sagte sie Kopf
schüttelnd. "Pass auf, Grit, dass du nicht ausrutschst. Was es doch
für ungezogene Menschen gibt ..."
Ich
begann gleich, mich ein wenig zu schämen, was eigentlich nicht nötig
war, denn es war ja nicht von mir. Wenigstens kam der Ditschens Willi
gleich beim ersten Klingeln an die Haustür, und der Fips kam gleich
hinterher. Etwas ärgerlich war, dass der Fips nicht sofort zu mir
gelaufen kam, sondern dem Ditschens Willi um die dreckigen Hosebeine
strich. Der bückte sich zu allem Überfluss auch noch, um den Fips am
Hals zu kraulen. Das hatte ich nicht erwartet, eher einen Fußtritt.
Wie konnte der Fips, fast mein Fips, sich von so einem Einbeinigen
kraulen lassen? Das grenzte schon fast an Treulosigkeit mir gegenüber.
"Grit, wo bist du denn in Gedanken? Hast du überhaupt zugehört?",
fragte Mutti verwundert. "Herr Ditsch und ich sind übereingekommen,
die Früchte des Baumes zu teilen. Alle Pflaumen, die über den Zaun
hängen, darf Herr Ditsch für sich verwenden. Das ist doch eine gute
Lösung, meinst du nicht auch?"
"Mir
doch egal", antwortete ich bockig und aus lauter Enttäuschung über das
Verhalten des Katers fast den Tränen nahe. In diesem Moment besann
sich der Fips und kam endlich zu mir. Ich nahm ihn auf den Arm und
drückte ihn an mich. Er stank ein wenig, bestimmt nach dem Hosenbein.
Aber dafür, dass er sich endlich an mich schmiegte und zu schnurren
begann, nahm ich den Gestank in Kauf.
"Ist
tierlieb, das Mädel", sagte der Ditschens Willi beinahe wohlwollend,
"ist mir schon aufgefallen. Sie kann mit Tieren."
"Auf
ihren Stufen hat sich jemand entleert. Passen Sie auf, dass Sie nicht
stürzen mit ihrem Bein." Mutti deutete auf Mellis Pisse. "Was für eine
Ungezogenheit!"
Mir
wurde heiß im Kopf. Zum Glück kam Manfred Sperling gerade von der
Arbeit nach Hause. Ich ließ den Fips schnell runter und rannte ihm
hinterher in unser Haus. Mutti hatte nichts gemerkt.
"Was
willst'n?" fragte Manfred, "'n Knaller?"
"Du
gibst mir ja doch keinen."
"Komm dann mal runter, aber erst, wenn deine Mutter außer Reichweite
ist. Kapiert?"
"Ins
Waschhaus?"
"Schnauze, du weist von nichts, verstanden."
Ich
nickte zustimmend. Vor großen Jungen habe ich ordentlich Respekt.
Jedoch die Aussicht, endlich etwas von dem geheimnisvollen Teufelszeug
zu sehen, es vielleicht anfassen und knallen lassen zu dürfen, ließ
mich jedes Versprechen geben und beflügelte meine Fantasie: endlich
würde sich das Geheimnis lüften.
"Ich
komme runter", flüsterte ich mit verschworener Miene, "aber warte auf
mich."
"Na
klar. Nichts lieber als das." Er grinste nur und klopfte sich mit dem
Zeigefinger an die Stirn. "Peng, peng!"
Komisch ist er schon irgendwie, der Manfred. Vielleicht ist er das
aber nur, weil seine Mutter krank ist, laut jammert und bald stirbt.
Oma hat erst letztens zu Mutti gesagt, dass das eine Erlösung für alle
im Haus wäre und dass der Junge dann ins Heim kommt, in dem
hoffentlich einer ist, der ihm beibringt, wo es im Leben lang geht.
Schon wegen der Aussicht wollte ich die Einladung ins Waschhaus auf
keinen Fall verpassen. Oben bei uns saß die Schwester Martha noch
immer in der Küche. Mutti hatte sich zu ihnen gesellt und mit Gepolter
begonnen, die Schubladen auszuwischen. Wenn das kein Wink mit dem
Zaunspfahl war? Mir kam Muttis Aktivität sehr gelegen. Ich verschwand
unauffällig im Wohnzimmer und huschte von dort ins Treppenhaus. Im Nu
war ich unten und klopfte an die Waschhaustür.
"Los, kletter da hinten rein", sagte Manfred. Er hielt eine
Taschenlampe in der Hand und leuchtete in das Loch, und mit Erstaunen
sah ich, dass er sich in der ehemaligen Räucherkammer so etwas wie
eine Wohnung eingerichtet hatte. Eine Matratze war da, eine Decke,
mehrere Sofakissen, Kerzen und Tante Maries Messingwärmflasche, die
sie schon lange gesucht hat.
"Guck nicht so behämmert. Ich schlaf da manchmal, wenn sie zu laut
stöhnt", erklärte er unwirsch.
Drinnen war es zwar kalt, aber ziemlich gemütlich. Auf dem Boden lag
ein seltsamer Haufen - das Teufelszeug. Manfred holte Streichhölzer
aus der Hosentasche.
"Nimm schon. Zünd so'n Ding an. Das sind nur Knaller. Hier, guck mal,
'ne Rennstrecke. Wenn du's hier anbrennst", er deutete auf einen
dicken roten Punkt, "laufen fünf Rennpferde los. Im Ziel knallt's. Ist
ganz einfach."
Ich
hielt die Pappvorlage in der Hand, es waren tatsächlich Pferde darauf
gemalt, und tat nach kurzem Zögern, denn das Herumkokeln mit
Streichhölzern war mir streng verboten, was er verlangte. Tatsächlich
sauste eine Feuerspur los, verteilte sich auf fünf Bahnen und raste
mit unterschiedlicher Geschwindigkeit auf das Ende der Spur zu. Dann
knallte es fünfmal nacheinander. Beim ersten Versuch bin ich schon ein
bisschen erschrocken, aber dann machte mir die Knallerei Spaß, und wir
ballerten drauflos, was das Zeug hergab. Bald war die Luft in dem
kleinen Kabuff so voller Qualm, dass wir husten mussten.
"Kannst'e
alles haben", sagte Manfred plötzlich. "Ich brauch's nicht mehr. Ich
geh weg von hier, zu meinem Onkel, und werd' Schornsteinfeger."
"Alles?" Ich traute meinen Ohren nicht. "Das ganze Teufelszeug?"
"Wenn du dich nicht damit erwischen lässt, ist's dir. Kannste deiner
Großmutter mal ordentlich einen Schrecken einjagen damit." Er lachte
bei der Vorstellung ein bisschen dreckig, ich auch, aber nur, weil ich
mir Omas erschrockenes Gesicht vorstellte.
In
der ersten Freude über das unerwartete Geschenk vergaß ich alle
Vorsicht und stopfte von dem Teufelszeug in meine große
Schürzentasche, was rein ging. Dann zerrte ich den Mantel über meinen
dicken Bauch, was eine gute Tarnung war. Wohin damit, darüber habe ich
nicht genug nachgedacht: vielleicht fürs Erste in meine Spielkiste,
ganz unten rein, unter die Bilderbücher.
Guter Dinge stürmte ich die Treppe hinauf und in die Küche. Die
Schwester Martha war immer noch da.
"Schuhe und Mantel im Flur ausziehen", rief Oma mir zu. "Was bringst
du denn für einen Geruch mit?"
"Vom
Fips vielleicht", antwortete ich noch immer ahnungslos, "der war beim
Ditschens Willi am Bein und .."
"Das
riecht nicht nach Kater", stellte Oma fest. Sie schnupperte und die
Schwester Martha, die das gar nichts anging als Besuch, schnupperte
auch und sagte streng: "Johanna, das riecht nach Verbranntem."
"Wie
siehst du überhaupt aus?", fuhr Oma fort. "Der Mantel verknöpft ..."
Sie musterte mich nun genauer. "Und was hast du für einen verbeulten
Bauch? Komm mal her zu mir."
Jetzt wurde es ungemütlich. Nur zögernd ging ich zwei Schritte auf sie
zu. Oma erhob sich und begann an meinen Mantel rumzufummeln. Dabei
kamen die ersten Knaller aus der übervollen Schürzentasche
rausgefallen. Sie begriff erstaunlich schnell.
"Du
sollst dich doch nicht mit dem Manfred Sperling einlassen. Wie oft
haben wir dir das verboten?" Und zur Schwester Martha hin erklärte
sie: "Das ist der ungezogene Bengel von unten. Der lernt in der
Pyrotechnik und schleppt das Zeug ins Haus. Am Himmel Tag und Nacht
die Bomber und bei uns im Haus die Knallkörper. Man ist nirgendwo mehr
sicher."
Während sie weiter plapperte und mehr und mehr in Aufregung geriet,
griff sie mit affenartiger Geschwindigkeit zuerst nach dem Feuerhaken
und zerrte ein paar Eisenringe vom Herd, dann ohne Unterbrechung nach
den Knallern und warf alles, beide Hände voll, mit Schwung ins Feuer.
"So,
dass du mir nie wieder ..." Weiter kam sie nicht. Denn jetzt begann es
in unserer Küche mit solcher Wucht zu explodieren, dass die zwei
restlichen Ringe vom Herd durch die Luft geflogen kamen, brennende
Kohlen und Asche hinterher ... Alles passierte so schnell, dass mein
Angstschrei zu spät kam, und ich nur noch schnell unter den Tisch
flüchten konnte. Niemals hätte ich mir träumen lassen, dass die
Knaller so ein Unheil anrichten könnten und darum wirklich Teufelszeug
waren, - aber Oma? Und, oh Schreck, wie sahen die beiden Frauen auf
einmal aus? Wie der Kohlenklau höchst persönlich. Ich kroch
vorsichtig unter dem Tisch hervor. Zur gleichen Zeit kam Mutti
angerannt und schrie: "Um Himmels Willen, was ist hier los?"
Oma
gab keinen Mucks von sich und tat so, als wäre sie gar nicht da.
Schwester Martha fing an zu kreischen, ihr langes Schwesternkleid war
futsch, sie hatte einen der Ringe abbekommen und nun einen großen
Brandfleck genau am Bauch, der noch ein bisschen schmorte. Neben Mutti
tauchte plötzlich auch Tante Marie in dem Qualm auf und guckte so
bedeppert, dass sie mir fast leid tat und ich ihr auf die Sprünge
helfen wollte. Da sowieso alle Blicke auf mich gerichtet waren und das
nichts Gutes ahnen ließ, hörte ich mich laut und deutlich sagen: "Ich
war das nicht! Das war Oma."
Am
Abend dieses Tages konnte ich lange nicht einschlafen, aber statt zur
Oma und den Knallern, wanderten meine Gedanken immer wieder hinüber
zum Ditschens Willi, und ich sah vor mir den Fips mit erhobenem
Schwanz um seine schmuddeligen Hosenbeine kreisen und sich anscheinend
nicht daran zu stören, dass der alte Mann hässlich aussah und nicht
gut roch. Vielleicht war das ja bei Tieren anders als bei Menschen?
Ich könnte niemanden gern haben, der was Ekliges an sich hat. Trotzdem
fand ich den Ditschens Willi etwas netter als sonst, weil er den Fips
gekrault und nicht getreten hatte, ahnte auch, dass Melli und ich ihm
unrecht getan hatten, und beschloss, mir etwas einfallen zu lassen,
irgendetwas Schönes, was ihn freuen würde, nur was - keine Ahnung,
vielleicht einen Eimer voll Briketts vom Kohlenhof ...
Die
Aufräumungsarbeiten in unserer Küche dauerten mehrere Tage. Dennoch
blieben Schäden an den Möbeln und an den Wänden zurück. Eine
Fensterscheibe hatte sogar ein Loch und war über die ganze Breite
gesprungen. Mutti verlor kein zorniges Wort über Omas gedankenloses
Handel; sie war nur auf Schadensbegrenzung bedacht. Zum Schluss hin,
als wir einigermaßen mit Putzen fertig waren, sagte sie jedoch: "Nun
habt ihr eine gewisse Vorstellung davon, wie das ist, wenn eine Bombe
einschlägt."
Nach
diesem Vorfall und weil wir jetzt ja wussten, wie eine Bombe wirkt,
kam Mutti die Erkenntnis, dass es sicherer sei, wenn wir bei Alarm
einen Schutzraum aufsuchen, den Keller drüben bei Pans, aber sie
verschob es immer wieder, weil sie meinte, es werden nur Fabrikanlagen
zerstört, die für den Krieg wichtig sind. In unserer Umgebung gibt es
Spinnereien, Webereien, Färbereien und eine Papierfabrik. Stoff und
Papier, was soll man damit im Krieg schon groß anfangen?
Es
war gegen Mittag und ein sonniger, wenn auch noch immer kalter Tag.
Ich saß im Wohnzimmer an der Singer-Nähmaschine und war mit dem
Stecknadelspiel beschäftigt. Mutti hatte mir eine
Vergissmeinnichtblüte aufgemalt, die ich mit den bunten Glasköpfen
nachformte, - da heulten die Sirenen los, ein schriller Ton, der auf
und ab wogte und uns immer wieder zusammenzucken ließ, obwohl er zum
Alltag gehörte und wir an ihn gewöhnt waren. Durch die offene Tür zur
Küche sah ich Mutti mit dem Kochtopf in der Hand am Fenster stehen,
von wo sie wie üblich den Himmel beobachtete. Im Kochtopf war noch ein
Rest von Pans Kloßbrühe, die sie genüsslich auslöffelte. In der Luft
hörte man die Geräusche der Flugzeuge, die ihre Bombenlast wie bisher
immer in Plauen, der nächst größeren Industriestadt, abwerfen wollten.
So hatte man es mir bisher immer erklärt, wahrscheinlich, damit ich
keine Angst bekomme. Deshalb war ich eher erstaunt als erschreckt, als
Mutti plötzlich den Kochtopf auf den Fußboden fallen ließ, wie der
Blitz zu mir gesaust kam, mich vom Stuhl riss, wobei sämtliche
Stecknadeln durch die Stube flogen, und an die Wand zwischen den
beiden Fenstern zerrte, dort mein Gesicht in ihren Bauch presste, dass
ich kaum noch Luft bekam, und sich über mich beugte. Im nächsten
Moment krachte es. Sämtliche Fensterscheiben um uns herum splitterten
durch dir Gegend. Irgendwelche Balken knarrten. Tische, Stühle,
Schränke rutschten über den Fußboden. Das Haus wackelte. Eine Wolke
aus schwarzem Staub hüllte uns ein. Wir standen wie gelähmt noch immer
an der gleichen Stelle - unverletzt. Die Stille, die nun eintrat, war
keine wirkliche Stille, denn auf der Straße begann jemand um Hilfe zu
schreien, immer lauter und lauter und verzweifelter. Dort unten musste
noch etwas viel Schrecklicheres passiert sein.
Ganz
langsam ließ Mutti mich los. Hand in Hand balancierten wir über die
Glasscherben in Richtung Treppenhaus. Von dort erreichten uns
ebenfalls Hilferufe. Sie kamen von Oma, die einen schrecklichen
Anblick bot. Sie stand da wie - ja wie? - wie der Herr Jesus auf dem
Bild, als er sein Kreuz schleppen musste und zuvor die Dornenkrone
aufs Haupt gedrückt bekommen hatte. Bei Oma war es der Rahmen vom
Treppenhausfenster, der ihr entgegen geflogen gekommen war und sich
ihr übergestülpt hatte mit all seinen Zacken vom abgesplitterten Glas.
Das Blut lief ihr aus unzähligen Wunden über das Gesicht. Sie wankte.
Mutti ließ meine Hand los, um sie aufzufangen, denn sie war dabei, in
Ohnmacht zu fallen. Wir befreiten Oma von dem Rahmen und setzten sie
so auf den Fußboden, dass sie den Kopf an die Stufen lehnen konnte.
Mehr Hilfe war im Moment nicht möglich. Oben im Altenstübchen hörten
wir Tante Marie eine Melodie summen. Ich kenne den Text dazu, er
beginnt mit: Dich, dich Jehova will ich preisen ... Mutti lauschte
kurz den lobpreisenden Tönen und sagte mit einem Seufzer der
Erleichterung: "Wir leben alle vier. Jetzt aber schnell raus aus dem
Haus und rüber zu Pans in den Keller."
Oma
und Tante Marie weigerten sich mitzukommen. Deshalb verließen Mutti
und ich das Haus allein, denn zum unnützen Reden war keine Zeit. Auf
der Straße war ein großer Haufen von allem möglichen Gerät, das es aus
den Häusern herausgeschleudert hatte. Betroffen waren unser Haus und
das von nebenan. Im gleichen Moment als Mutti versuchte, mir ihre Hand
vor die Augen zu halten und mich wegzuziehen, sah ich dort einen
blutenden Menschen liegen, nein nicht nur einen, es waren drei, aber
einen kannte ich nur zu gut, den Ditschens Willi. Sein Holzbein
fehlte. Im selben Moment dachte ich an den Kater. Wo war der Fips? Der
Fips! Mutti schien meine Gedanken zu erahnen. "Komm, komm", sagte sie,
"nicht jetzt, Grit."
Als
mich Mutti Stunden später aus Pans Keller abholte, lagen die drei
Menschen nicht mehr auf der Straße. Auch Frau Sperling war weggebracht
worden, angeblich ins Krankenhaus. Manfred stand bleich wie eine
Kalkwand im Treppenhaus. Er hatte rot umränderte Augen, und als ich
ihn verwundert anstarrte, guckte er zur Seite. Er schämte sich
offensichtlich vor mir. So hatte ich ihn noch nie gesehen. Sonst hat
er immer angeberisch gegrinst oder mich mit irgendeinem frechen Spruch
angepöpelt. Manfreds Aussehen, sein so verändertes Verhalten,
bereitete mir mehr Unbehagen als der Anblick der blutenden Oma kurz
nach dem Einschlag.
In
unserem Haus war kein Fenster mehr ganz. Die Kälte hatte freien Zugang
in alle Räume. Die Bombe, die Mutti hatte vom Himmel fallen sehen, war
in unser und des Ditschens Willis Hinterhaus gefallen. Der Ditschens
Willi hatte dort seine Werkstatt gehabt. Beide Hausteile waren zu
einem einzigen großer Schutthaufen miteinander vereinigt.
Wie
ich so an dem Riesenloch stand, das einmal unser Küchenfenster gewesen
war, und den unförmigen Trümmerhaufen beäugte, da sah ich obenauf
etwas braun-beige Gestreiftes schimmern, das aussah wie der Schwanz
vom Fips. Jetzt gehört er mir, war mein erster Gedanke bei diesem
Erkennen, jetzt hat er niemanden mehr auf der Welt, nur mich. Er wird
bei mir wohnen, nun, wo der Ditschens Willi weg ist, für immer. Mein
ganzes Essen werde ich mit ihm teilen, mein Bett, mein Leben - alles.
Ich
stolperte davon, über alle Hindernisse hinweg - die Treppe runter,
raus in den Hof, nun schon über Mauerteile hinweg die ausgetretenen
Stufen rauf in den Garten. Den riesigen Trümmerhaufen vor mir, auch
den bezwang ich ohne Sturz, ohne Verletzung, ohne irgendeine Gefahr
auch nur im Ansatz zu bemerken, denn ich wusste, was ich wollte, nur
das: ihn zu mir nach Hause holen, für immer, meinen Kater Fips.
Dann
stand ich vor ihm. Er lag lang hingestreckt auf dem höchsten Punkt des
unförmigen Haufens und schlief. Als ich mich zu ihm bückte, um ihn auf
den Arm zu nehmen und heim zu tragen, durchrieselte mich von oben bis
unten ein nie gekannter Schmerz, denn obwohl er friedlich vor mir lag,
begriff ich, dass sein Schlaf ein besonderer Schlaf war, ein Schlaf
für immer und ewig. Mit der gleichen Hellsicht um das unabänderbare
Geschehen bemerkte ich die Reste des Wunder Gottes zwischen dem Geröll
herausspießen.
Das
war der Krieg, der echte, der wirkliche, er nahm einem alles ...
Mutti bemerkte mich halb erfrorenes Häuflein Unglück, kletterte zu mir
hin über die Trümmer und rettete mich, indem sie mich mit einer
Wärmflasche ins rasch von Splittern gesäuberte und frisch bezogene
Bett steckte. Sie saß lange neben mir, versuchte mich zu beruhigen,
streichelte mich, aber nichts half, nichts, kein noch so liebevolles
Wort vermochte mich trösten, nichts ...
Unser Haus war durch eine einzige Bombe, die ein gewissenloser Mensch,
ohne an die Folgen zu denken, vom Flugzeug aus abgeworfen hatte,
unbewohnbar geworden. Es waren insgesamt vier Bomben, die um uns herum
vom Himmel gefallen sind, eine in unser Hinterhaus, eine mitten auf
die Straße, da war jetzt ein großes Loch, zwei weitere hatten
Wohnhäuser getroffen, deren Bewohner weniger Glück hatten als wir.
"Grit", sagte Mutti während sie mit der Hand besorgt meine heiße
Stirn befühlte und meine Temperatur maß, "wir ziehen für eine Weile
aufs Dorf zu meiner Schulfreundin Marga Vollert. Dort wirst du dich
erholen. Weißt du, sie wohnt auf einem Bauernhof mit vielen Tieren und
freut sich auf uns." Und so kam es, dass wir unser Haus als erste
verließen. Oma zog zur Schwester Martha in deren ärmliches Zimmer im
Diakonissenhaus. Frau Sperling starb im Krankenhaus. Manfred Sperling
kam zu seinem Onkel, dem Schornsteinfegermeister, der ihn als Lehrling
einstellte. Tante Marie blieb allein im Haus zurück. Sie hatte sich
bereit erklärt, die notwendigen Aufräumungsarbeiten zu übernehmen und
uns Bescheid zu geben, wenn die Fenster neue Glasscheiben bekommen
haben. Wann das sein würde, das war nicht abzusehen.
Marga Vollert konnte ich vom ersten Sehen an gut leiden. Ich durfte
Tante Marga zu ihr sagen. Sie war so alt wie Mutti, aber viel lustiger
als sie. Sie zeigte mir ihren Bauernhof und stelle mich all ihren
Tieren vor, die Namen wie Menschen hatten. Sogar in den Hühnerstall
durfte ich klettern, um dort in die Nester zu greifen und die frisch
gelegten Eier heraus zu angeln, die sie behutsam in einen großen,
runden, geflochtenen Korb legte. Die Hühner guckten dabei zu,
meckerten ein wenig unwillig, wie mir vorkam, aber sie taten mir
nichts. Nur mit dem Hahn sollte ich nicht versuchen anzubandeln, der
sei in seinem Verhalten nicht zu kalkulieren, erklärte Tante Marga
mir.
"Und
Grit, merke dir, zieh nichts Rotes an. Wenn er was Rotes sieht, wird
er ganz verrückt." Tante Marga lachte schallend. "Versuch es gar nicht
erst."
Im
Stillen plante ich bereits einen Versuch. Warum sollte der Hahn bei
Rot verrückt spielen? Das sollte er mir erst einmal vormachen!
Tante Marga war sehr froh, dass sie von nun an mich als wichtige
Stütze auf dem Hof hatte. Sie erzählte überall herum, wie geschickt
ich mich anstelle und dass ich das Zeug dazu hätte, später einmal eine
tüchtige Bauersfrau zu werden, wenn nicht gar ihre Nachfolgerin. Solch
lobende Worte sagte sie gern in meinem Beisein, ich war sehr stolz
darauf und wich Tante Marga kaum noch von der Pelle.
Auf
dem Bauernhof wohnten auch die Eltern von Tante Marga. Ihre Mutter
besorgte die Küche, ihr Vater kümmerte sich um die Felder und Tante
Marga und ich, wir kümmerten uns um den Stall mit den Tieren. Mutti
sah ich an manchen Tagen nur zu den Mahlzeiten. Sie war nicht für die
Landwirtschaft geschaffen, hatte aber andere Talente, sie schneiderte,
strickte Pullover, stopfte Socken und bemalte alte Milchkannen mit
Blumenmustern.
Einmal sagte Herr Vollert zu Mutti: "Wenn das so weiter geht mit dem
Mädel, dann wird das nie was mit einer Heirat."
Ich
erschrak, aber mit Mädel war nicht ich, sondern Tante Marga gemeint.
Darüber wunderte ich mich sehr. War sie denn nicht verheiratet? Die
Frage blieb in meinem Kopf hängen, denn so viel ich wusste, waren die
meisten Männer entweder in einem Lager oder an irgendeiner Front, um
gegen irgendwen zu kämpfen. Warum sollte zu der lustigen und hübschen
Tante Marga nicht auch einer von denen gehören, die da in die Ferne
geschickt worden waren - nach Norwegen wie Vati, Frankreich oder
Russland? Ich wollte das genau wissen und fragte sie.
"Ist
dein Mann nicht im Krieg?"
"Ach
Grit, was du dir für Gedanken machst." Sie lachte. "Ich habe keinen
hier und keinen im Krieg. Ich kann warten, bis der Richtige kommt. Hör
nicht auf den Alten." Sie drohte ihrem Vater aus Spaß mit dem
Zeigefinger: "Halt du dich da raus. Das ist meine Sache."
Bei
diesem fröhlichen Geplänkel und geselligen Miteinander verging die
Zeit wie im Fluge. Bald schien die Sonne wärmer. Die Felder wurden
grün. Die Bäume auch. Ich konnte mir ein Leben woanders gar nicht mehr
vorstellen. Sicher, der Hahn mit seiner Wut auf die rote Farbe
bereitete uns manche unvorhergesehene Überraschung, aber die war
auszuhalten, manchmal sogar lustig, weil wir ihn aus sicherer
Entfernung gern ein wenig reizten und uns über sein seltsames Gebaren
amüsierten.
"Mit
dem sollten wir im Zirkus auftreten und ordentlich Geld verdienen",
befand Tante Marga. "Grit, das wäre eine Aufgabe für dich, wenn du
größer bist."
Ich
war begeistert und fest entschlossen, die Herausforderung anzunehmen,
dem Hahn zu schauenswerten Leistungen zu verhelfen. Es gibt sogar
einen Beruf für solche Sachen: Tiertrainer, und es sind nicht nur
Hühner, denen man was beibringen kann, Hunden, Pferden, Schweinen,
Ziegen und manchen Vögeln auch. Ich rannte zu Mutti, um ihr meinen
Berufswunsch für später mitzuteilen.
Mutti hatte bereits auf mich gewartet. Sie tat so, als müsste sie mir
etwas Wichtiges mitteilen und zog mich zu sich auf den Schoß.
"Grit, du hast dich hier auf dem Bauernhof wunderbar erholt. Es wird
nun Zeit, dass wir zurück nach Hause fahren. Oma und Tante Marie
warten bereits auf uns. Auch ist der Krieg endlich vorbei. Vati wird
gewiss bald wieder bei uns sein. Freust du dich?"
Von
Freude konnte keine Rede sein. Nicht einmal über das Ende des Krieges.
Ich hatte das alte Leben fast vergessen und erinnerte mich nur dunkel
an das Unglück mit der Bombe und unser kaputtes Haus, irgendwie so,
als hätte ich das alles nicht selbst erlebt, sondern vor langer Zeit
aus einem Geschichtenbuch vorgelesen bekommen. Nein, ich wollte nicht
zurück, ich wollte bleiben und zwar hier.
"Sei nicht traurig, du kannst mich immer besuchen kommen", sagte
Tante Marga zum Abschied und drückte mir einen Kuss auf die Stirn.
"Ich weiß gar nicht, wie ich hier ohne dich über die Runden kommen
soll. Wenn ich später mal Kinder habe, dann sollen sie so sein wie
du."
Das
war ein schwacher Trost. Was hatte ich von ihren späteren Kindern?
Nichts! Weinend trottete ich neben Mutti her, hin zur Bushaltestelle.
Nicht einmal auf ein Wiedersehen konnte ich mich freuen, etwas in mir
sagte, dass das nie sein würde: nie.
Während mein Blick die frisch ergrünten Felder und Wälder streifte,
der Busmotor brummte und mein Sitz hin und her wackelte, drehte sich
ein Karussell in meinem Kopf. Hätte ich Tante Marga nicht auch auf die
Stirn küssen sollen? Gleich hinterher, nachdem sie mich geküsst hat?
Hätte ich sie nicht bitten sollen, mich auf dem Bauernhof bei sich zu
behalten? Hätte ich ihr nicht sagen sollen, dass ich sie gern habe?
Nichts von alledem hatte ich getan und nun war alles vorbei ...
"Es
wird jetzt alles gut", tröstete mich Mutti, "wirst schon sehen, Grit.
Bald sind wir wieder eine richtige
Familie." Sie legte den Arm um mich, und ich machte es mir in ihrer
Umarmung gemütlich. Bei Mutti im Arm war es schön, bei Tante Marga auf
dem Bauernhof aber auf.
|
|
Copyright © by
www.res-life.de
Prosa
|