Arbeitstitel: Jesus, Stalin & Grit Sorgenfrei
Auszug

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Kapitel 1     Meine Menschen
Kapitel 2     Tag- und Nachtgeschichten
Kapitel 3     LirumLarumLöffelstiel
Kapitel 4     Peng getroffen

 

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Meine Menschen

Meine wichtigsten Menschen heißen Mutti, Oma, Tante Marie und Melanie. Bis auf Melanie wohnen wir alle in einem alten Haus mit dicken Balken und Wänden aus Lehm. Zu uns gehören noch Vati und Onkel Bruno, aber die sind nicht da. Vati ist im Krieg, in Norwegen, dort gefällt es ihm gut. Onkel Bruno ist der Mann von Tante Marie, er ist schon lange fort, ich weiß nicht mehr, wie er ausgesehen hat. Er wohnt jetzt in Buchenwald, in einem Lager.

Im Erdgeschoss unseres Hauses wohnt die Frau Sperling mit ihrem Sohn Manfred, aber die zählt nicht mehr richtig, denn sie ist krank und stirbt bald . Dem Manfred soll ich aus dem Weg gehen, weil meine Oma ihm nicht über den Weg traut. Er lernt in einer Fabrik, in der Teufelszeug hergestellt wird, was knallt und genauso explodieren kann, wie die Bomben und Granaten draußen im Krieg.

Im Haus nebenan wohnt der alte Ditschens Willi mit seiner Frau und dem Fips. Der Ditschens Willi kann mich nicht leiden und ich ihn auch nicht. Ich wäre froh, wenn er noch weiter weg wohnen würde als der Onkel Bruno, damit er mich nicht wegen jedem Klacks vollmeckern und das Wunder Gottes in Ruhe wachsen kann, ohne dass ihm die Wurzeln abgehackt werden, weil die unterirdisch ein bisschen in seinen Garten rüber gewuchert sind. Schade wäre nur, wenn mich der Fips nicht mehr besuchen käme, und am liebsten hätte ich den Fips ganz für mich allein. Manchmal tritt der Ditschens Willi mit seinen derben Schuhen nach dem Fips. Das erfüllt mich mit Zorn, und ich denke darüber nach, wie ich ihm das heimzahlen kann. Wenn ich mir vom lieben Gott was wünschen dürfte, wünschte ich mir nicht, dass er mich fromm macht, sondern dass er mir den Fips schenkt, und ich glaube, der Fips hätte den gleichen Wunsch wie ich, wenn er mit dem lieben Gott sprechen und nicht nur miauen könnte.  

Da fällt mir gleich die Schwester Martha aus der Sonntagsschule ein, weil sie noch schlechter zu Tieren ist als der Ditschens Willi. Sie kommt meine Oma manchmal besuchen und schleppt immer eine Fliegenklatsche mit sich herum. Oma sagt, sie sei allergisch auf alles, was krabbelt und bekommt sofort Pickel, wenn ihr mal was zu nahe kommt. Mit der Klatsche hat sie meinen niedlichen, kleinen Hansi totgeschlagen. Der Hansi hatte sich gerade bei uns eingelebt. Er war ganz sauber und hat sich immerzu mit seinen dünnen Vorderbeinchen das Gesicht geputzt. Auf dem Küchentisch hat er eine kleine Wohnung gehabt. Mutti hat sie mit vier Streichhölzern eingezäumt. In dem Viereck fand er immer ein paar Krümel Zucker und einen Tropfen frisches Wasser. Mehr hat der kleine Hansi nicht gebraucht zum Leben. Er war schon fast zahm und ist mir bis ins Bett hinterher geflogen, über mein Gesicht gekrabbelt und, wenn ich nicht gewackelt habe, auf meiner Nase eingeschlafen. Die Schwester Martha, die ihn gar nicht gekannt hat, hat ihn sechsbeiniges Ungeziefer genannt. Als sie einmal mit meiner Oma allein in der Küche war, hat sie ihre Klatsche rausgeholt und ihn zu Mus gedroschen. Wir haben den Rest vom Hansi auf dem Tisch gefunden. Mutti hat lange mit mir darüber geredet und mich darum gebeten, dass ich der Schwester Martha verzeihen soll. Ich habe ihr zu Gefallen zwar ja gesagt, aber ich werde es nicht tun. Niemals!

Melanie ist meine Freundin. Sie heißt im Ganzen Melanie Pan, wird aber Melli gerufen, und wohnt gegenüber auf der anderen Straßenseite, wir können uns in die Fenster gucken. Melli ist so alt wie ich, wir sind bald sechs und kommen zusammen in die Schule. Zuerst konnte ich Melli nicht leiden, wegen der Kloßbrühe, die wir jeden Sonntag von ihren Eltern geschenkt bekommen. Wenn Melli mit dem Topf unten steht, muss ich runterlaufen und mich für die Brühe bedanken, weil ja meistens ein übrig gebliebener Kloß für mich in der trüben Suppe herumschwimmt. Jetzt habe ich mit dem Bedanken aufgehört und bekomme den Kloß trotzdem. Melli bedankt sich ja auch nicht, wenn ich ihr auf dem Kohlenhof helfe, dass sie ihren Eimer genauso schnell mit Briketts voll bekommt wie ich. Sie muss dann nicht allein bei den schwarzen Kohlemännern herumstehen. Ich weiß, dass sie sich ohne mich vor ihnen grault und froh ist, wenn wir unsere vollen Eimer gemeinsam nach Hause schleppen können. Auch beim Pferdeäpfelsammeln bin ich schneller als Melli, aber das ist ihr egal, weil sie die Äpfel für nichts gebrauchen kann. Die Äpfel bekommt alle das Wunder Gottes, und das Wunder Gottes gehört mir.

Ich heiße Grit Sorgenfrei. Mutti hat gesagt, wenn man einen langen Nachnamen hat, klingt es melodischer, wenn der Vorname kurz ist. Bei Melanie ist es genau umgekehrt, sie hat wegen des kurzen Nachnamens einen langen Vornamen. Auch das klingt melodisch. Wir können beide froh sein, dass unsere Eltern auf diesen Umstand geachtet haben. Bei Jutta Röckl, die auch in unserer Straße wohnt und behauptet, dass sie in die gleiche Klasse kommt wie wir, sieht das schon anders aus. Melli und ich finden, dass wir schönere Namen haben und außerdem wohnt der Vater von Jutta Röckl auch in so einem Lager wie der Onkel Bruno. Meine Oma meint, es reicht schon an, dass wir mit dem Onkel belastet sind und ich soll nicht noch Kinder angeschleppt bringen, von denen man nicht weiß, was die Väter auf dem Kerbholz haben. Mit Mellis Vater stimmt aber alles, auch wenn er nicht an der Front ist wie mein Vati, denn er ist wegen einer wichtigen Sache vom Krieg freigestellt.

Mein Vati kann von Glück reden, dass er nach Norwegen gekommen ist und nicht nach Russland. In Norwegen hat er es besser als wir hier in der Heimat, er hat genug zu essen und muss im Winter nicht frieren. Auch ist dort die Gefahr, dass er im Kampf totgeschossen wird, weit geringer als an sämtlichen anderen Fronten. Mutti sagt, dass ihr Fritz klug und umsichtig genug ist, gefährliche Situationen zu meiden und dass er sich im Ernstfall aus der Schusslinie zu bringen weiß, weil er das schon früher so gehalten hat und dass ich mir um ihn keine Sorgen zu machen brauche. Es wäre auch deshalb sehr schade um Vati, weil er ein wichtiger Finanzbeamter und eine Respektsperson ist, dazu stattlich anzusehen und noch ziemlich jung und ein flotter Bursche. Das leuchtet mir ein. Nur kranke und alte Menschen sollten sterben, solche wie die Frau Sperling, bei der es in den Därmen fault, oder der Ditschens Willi, dem bereits ein Bein fehlt und der das Gesicht voller Warzen hat und obendrein noch stinkt, weil er ein Dreckferkel ist und sich nicht wäscht.

Manchmal kommt der Vati ganz unverhofft nach Hause und bringt uns etwas Wertvolles zu essen mit, was manchmal schmeckt und manchmal nicht. Einmal war es eine Leberwurst, die eklig nach Erbsenbrei geschmeckt hat, aber darauf kommt es nicht an, sondern nur darauf, dass wir etwas in den Magen bekommen, damit der nicht einschrumpelt, denn mit einem verschrumpelten Magen macht das Leben keinen Spaß mehr. Leider bringt der Vati nie viel Zeit mit, nur so viel, wie die schwere Uniform braucht, um von Mutti gewaschen, getrocknet und gebügelt zu werden. Dann muss er gleich wieder weg nach Norwegen, und Oma hat den Eindruck, dass er ganz gern wieder abhaut. Das wird so weiter gehen, bis der Krieg zu Ende ist. Mutti behauptet, im Frühling ist es so weit, länger hält das kein Land mehr aus, denn abgesehen von unserer Kleinstadt, die noch wenig Bomben abbekommen hat, liegt das ganze Land in Schutt und Asche. Es gibt kaum noch etwas, was sich lohnt, kaputt geschlagen zu werden. Wegen unserem alten Lehmhaus brauchen die Bombengeschwader nicht extra aus England und Amerika angeflogen kommen, das lohnt sich nicht, denn allein eine einzige Bombe ist viel teurer als unser ganzes Haus vom Keller bis zum Dachboden, einschließlich dem Hinterhaus, dem Garten und dem Wunder Gottes ganz hinten am Zaun. Auf jeden Fall freue ich mich auf den Frühling, den Vati und den Frieden, der dann für immer sein wird.

Wenn jemand behauptet, Elfrun sei kein schöner Name, dann ist das dumm. Jutta Röckl ist dumm, denn sie hat auf der Straße herumerzählt, Frauennamen müssten auf a enden, sonst wären es keine richtigen Frauennamen. Damit hat sie es sich mit Melli und mir gründlich verdorben. Wir haben sie uns geschnappt und ihr eine geknallt und gesagt, ab nun kann sie sehen, wo sie eine Freundin herbekommt mit einem a hinten dran, wir jedenfalls pfeifen auf sie und ihre Aaaas.

Elfrun – das ist ein Name, so schön wie aus einem Märchenbuch. Oma hätte Mutti nie so genannt, wenn sie nicht schon als Baby wie eine Elfe ausgesehen hätte. Jetzt ist meine Mutti groß und schlank. Sie hat blaue Augen und blondes, lockiges Haar, fast so lang und glänzend wie das von den Engeln auf dem Bild in der landeskirchlichen Gemeinschaft. Besonders schön sieht es aus, wenn sie das Haar offen trägt und das Licht dagegen scheint und der Wind ein wenig mit den Locken spielt. Das ist, als könnte man sie wegpusten, als würde sie von der Erde weg und in den blauen Himmel hineingewirbelt, so leicht und luftig und zart und lieblich, dass ich vor Staunen beinahe das Atmen vergesse. Aber das ist nicht immer so. Oma wünscht, dass sich Mutti einen Mittelscheitel zieht und die Haare zu einem Knoten bindet, weil das arischer aussieht. Ich weiß nicht recht, ob arisch aussehen etwas besonders Gutes ist, aber ich finde es schon deshalb blöd, weil ich nie so aussehen kann wie meine Mutti. Ich habe zwar auch blaue Augen, aber keine blonden Haare und keine einzige Locke, ich habe glatte schwarze Haare wie mein Vati. Dazu bemerkt Oma, dass das eine ungewöhnliche Zusammenstellung ist, ein unglücklicher Zufall, und es wäre besser, wenn ich äußerlich mehr nach Mutti geraten wäre. Noch schlimmer ist, wenn sie aus meinen Zöpfen Schnecken drehen und über den Ohren mit Haarnadeln zusammenstecken. Die Nadeln piksen immerzu, wenn man drankommt. Damit die Schnecken nicht wackeln, binden sie mir obendrein ein Samtband um den Kopf, das ist wie eine Fessel. Ich hätte viel lieber kurze Haare und eine Rolle wie Melli, aber ich kann betteln, wie ich will, Mutti lässt sich nicht erweichen. Manchmal kann sie ganz schön streng sein, aber streng und streng ist nicht ganz dasselbe, wirklich streng ist nur meine Tante Marie, die oben untern Dach im Altenstübchen wohnt.

Vor Tante Marie muss ich auf der Hut sein, sie taucht immer da auf, wo ich sie nicht vermute. Einmal war ich bei ihr oben und habe aus Versehen einen Eimer mit Wischwasser umgerannt. Gleich war sie da, und ich musste zur Strafe so lange auf dem Sofa sitzen, bis alles wieder trocken war. Während Tante Marie das Wasser aufgetitscht hat, hat sie fröhliche Lieder geträllert und zwischendurch zweimal mit mir gebetet. Tante Marie betet mehrmals am Tag ziemlich lange. Mutti und Oma beten auch jeden Tag, aber die Gebete sind kürzer. Sie bitten den lieben Gott meistens darum, dass er uns etwas schenken möge, seinen Segen und mehr zu essen. Tante Marie will vom lieben Gott nichts geschenkt haben, sie dankt ihm für alles, so wie es ist, und behauptet, dass der liebe Gott alles richtig macht, einfach alles, und dass man ihn dafür immerzu lobpreisen muss, auch wegen der Sache mit Onkel Bruno, die einen tiefen Sinn hat, denn er wohnt nicht wegen einer schlechten Tat im Lager, sondern zur Ehre Gottes, und man muss bedenken, dass der arme Herr Jesus, welcher der Sohn vom lieben Gott ist und den sie vor vielen Jahren ans Kreuz genagelt haben, noch viel viel mehr gelitten hat als der Onkel Bruno jetzt und zwar freiwillig, weil er mit seinem Leiden die Menschen von ihren Sünden erlösen wollte. Darum freue ich mich mit Tante Marie für den Onkel Bruno, dass er im Lager sein darf und dort soviel für den lieben Gott tun kann. Sie sagt auch, dass die Kinder beizeiten anfangen müssen, auf Gottes Wegen zu wandeln. Darum ist Tante Marie auch immer hinter mir her und nutzt jede Gelegenheit, um mir eine von ihren vielen Weisheiten mit auf den Lebensweg zu geben. Auch ist es wichtig für mich zu wissen, dass der liebe Gott die guten Menschen beschützt, besonders aber unsere Familie. Ich brauche keine Angst zu haben, dass uns etwas Böses widerfährt, auch nicht, wenn draußen in der Welt Krieg ist und überall Bomben fallen. Wir haben deshalb einen so heißen Draht zum lieben Gott, weil Onkel Bruno zur Braut Christi gehört. Das mit der Braut Christi ist aber ein großes Geheimnis, das ich nicht wissen darf. Tante Marie kann sich nicht erklären, bei welcher Gelegenheit ich das aufgeschnappt habe. Sie wurde plötzlich ganz unruhig und zittrig, und ich musste ihr fest versprechen, mit niemandem darüber zu reden, besonders nicht mit der Oma, und ich weiß auch warum, es ist deshalb, weil Tante Marie bei den Bibelforschern ist und Oma die Bibelforscher nicht ausstehen kann.

Meine Oma heißt Johanna. Sie ist die Schwester von Tante Marie. Tante Marie ist darum keine richtige Tante, sondern eine Großtante und Onkel Bruno ein Großonkel, aber der kleine Unterschied ist nicht wichtig und ich brauche ihn nicht beachten. Es soll noch eine Schwester von ihnen geben, die wohnt weit weg und kann uns wegen dem Krieg nicht besuchen kommen. Sie heißt Tante Hedwig und ist die Älteste von den drei Schwestern. Tante Marie war das Nesthäkchen unter ihnen, sie war als Kind immer sehr artig und fleißig und hat ihren Eltern nie Kummer bereitet. Auch Oma soll sich große Mühe gegeben haben, aber sie war nach Tante Maries Schilderung etwas flatterhaft veranlagt und hat es ausgenutzt, dass sie die Schönste von den Dreien war. Außerdem hatte sie schon als Kind Asthma, weswegen sie sehr blass und anfällig war und jeder Rücksicht auf sie nehmen musste. Wenn sie mal nicht im Mittelpunkt stand, hat sie gleich einen Anfall bekommen und alle damit verrückt gemacht. Heute weiß Tante Marie, dass man ihr vieles nachsehen muss wegen dem Asthma, aber damals als Kind haben sie sich oft gestritten.

Früher hat die Oma auch einen Mann gehabt, der hieß der schöne Alfred. Ich habe ihn auf einem Foto gesehen, und er ist mein Opa, aber keiner will mit mir über ihn reden. Ich vermute, auch hier gibt es ein Geheimnis. Vielleicht gehört er auch zur Braut Christi. Auf dem Foto ist die Oma jung und trägt ein elegantes weißes Kleid – wie eine Prinzessin. Neben ihr steht der schöne Alfred mit einem Spazierstöckchen am Arm und vor ihnen stehen zwei kleine Kinder, ein Mädchen und ein Junge, auch ganz in weiß gekleidet. Das Mädchen ist meine Mutti. Den Jungen, der ja jetzt auch schon groß sein müsste, habe ich nie gesehen. Als ich Mutti bedrängte, mir von ihm zu erzählen, hat sie bekümmert gelächelt, mir über den Kopf gestrichen und gesagt, ich sei noch zu klein, um das alles zu verstehen, aber es hängt damit zusammen, dass Oma oft so traurig ist und deshalb soll ich immer lieb zu ihr sein und tun, was sie sagt, gleich beim ersten Mal. Tante Marie hat schon recht, es soll immer nach ihr gehen und alle sollen nach ihrer Pfeife tanzen. Wahrscheinlich hat die Großel, meine Urgroßmutter, die fast hundert Jahre alt geworden ist und deshalb sterben musste, wegen dem vielen Streit und den vielen Geheimnissen bestimmt, dass das Haus mir gehören soll, wenn ich groß bin und niemand anderem aus der Familie.

An die Großel kann ich mich erinnern, denn sie war zu Weihnachten noch da und hat mir das Puppen-Mariechen geschenkt, das ist eine Gliederpuppe mit altmodischen karierten Kleidern und einem roten Filzhut auf dem Kopf, und sie war einmal Tante Maries Lieblingspuppe als sie ein kleines Mädchen war. Jetzt sitzt das Puppen-Mariechen wieder oben bei Tante Marie auf dem Sofakissen, weil sie nicht mit ansehen kann, wie lieblos ich ihr Mariechen durch die Gegend schlenkere. Später einmal, wenn ich verständiger geworden bin und den Wert vom Mariechen erkannt habe, soll ich es wieder bekommen und noch den ausgestopften, blaugrünen Zeisig dazu, der oben auf der Wanduhr sitzt und den Tante Marie als Kind aus Versehen totgetreten hat, was bis heute ein wunder Punkt in ihrem Leben geblieben ist. Ich will aber weder das Mariechen noch den Zeisig, weil ich viel lieber etwas Lebendiges haben möchte. Wenn der Krieg vorbei ist und wir wieder mehr zu essen haben, dann bekomme ich eine Katze oder einen Hund, das hat mir die Großel auf die Hand versprochen, und alle haben es gehört. Ich habe die Großel sehr lieb gehabt. Das Außergewöhnliche an unserer Großel war, dass sie immer schöner geworden ist. Ihr Gesicht strahlte Freundlichkeit und Güte aus, und ihr Blick war mild wie der Schein der Abendsonne. Tante Marie hat mir verraten, dass das bei uns in der Familie liegt und dass es nur wenige Menschen gibt, die erst im Alter zu voller Schönheit erblühen und denen ein paar Runzeln mehr oder weniger nichts anhaben können. Tante Marie war auch sofort damit einverstanden als die Großel vorgeschlagen hat, dass sie ihr Drittel am Haus an mich verschenken soll und zwar deshalb, weil es ein Ballast ist und irdische Werte ihr nichts bedeuten.

Unser Haus ist ein ganz besonderes Haus. Es steht am Hang, und der Hang ist so steil, dass man vom Erdgeschoss, der ersten Etage und dem Altenstübchen oben unter dem Dach hinaus ins Freie gelangen kann. Jede Wohnung hat zwei Zugänge, einen vom Treppenhaus und einen vom Garten. Weiterhin hat das Haus einen Keller, in den man nur über eine schmale Falltür einsteigen kann. Die Falltür befindet sich bei Sperlings im Vorsaal, und man muss zuvor bei ihnen klingeln, um hereingelassen zu werden. Im Keller ist es eng, muffig und feucht und zum Gruseln, weil es kein elektrisches Licht gibt. Auch hört man dort die kranke Frau Sperling stöhnen. Das Stöhnen gelangt durch die Falltür in den Keller hinunter und läuft dort wie ein verirrtes Echo den Gang rauf und runter. Die Falltür darf niemals zufallen, wenn man unten ist, wenn sie zufällt, dann ist man in der Tiefe lebendig begraben.

Wir wohnen in der ersten Etage. Wenn Vati nicht da ist, schläft Oma in seinem Bett, weil sie vor dem Alleinsein Angst hat. Sie hat aber auch eine Kammer mit einem eigenen Bett im Dachgeschoss oben, direkt neben dem Altenstübchen. Dorthin verzieht sie sich auch tagsüber, wenn Vati da ist. Vati ist der Meinung, dass wir nicht den ganzen Tag aufeinander hocken können und jeder seinen Freiraum braucht, sonst wird die Luft zum Atmen dünn.

Das Altenstübchen heißt so, weil die Großel dort bis zu ihrem Tod gewohnt hat. Es ist eine kleine vollständige Wohnung, aber das Wort Altenstübchen erklärt die Bedeutung der Wohnung nicht ausreichend. Der Urgroßvater, der das Haus gebaut hat, hat gewollt, dass im Haus immer ein Platz frei ist für ein Familienmitglied, das sich im Leben verirrt hat oder in bittere Not geraten ist. Es soll zurück nach Hause kommen können und da stets willkommen sein und ein Dach über dem Kopf finden, ähnlich wie es in der Geschichte vom verlorenen Sohn in der Bibel geschrieben steht. Als Onkel Bruno ins Lager kam, war es Tante Marie, die zur Großel ins Altenstübchen gezogen ist. Oma hat oft gesagt, das war eine Fügung des Schicksals, denn genau zu der Zeit ist die Großel bettlägerig geworden, und Tante Marie hat sofort ihre Pflege übernehmen können.

Vom Altenstübchen gelangt man über einen schmalen Gang durch den Anbau, der mehr ein Schuppen als ein Haus ist, in den oberen Garten. Dort, in der hintersten Ecke befindet sich ein besonders warmes und windgeschütztes Plätzchen. Da steht das Wunder Gottes direkt am Zaun, der unser Grundstück von Ditschens Willi seinem abgrenzt. Das Wunder Gottes ist ein Baum, ein Zauberbaum, wie es ihn nirgendwo auf der Welt noch einmal gibt. Wahrscheinlich stammt er aus dem Paradies, aber keiner weiß, auf welch geheimnisvolle Weise er in unseren Garten gelangt ist. Vielleicht hat ein blaues Vögelchen das Samenkorn in seinem Schnabel von weit her getragen, von so weit her, wie man es sich gar nicht vorstellen kann. Am Zauberbaum reifen im Sommer dreierlei verschieden Früchte: blaue Pflaumen, rote Pflaumen und gelbe Pflaumen. Und diesem wundersamen Baum will der schlechte Ditschens Willi mit der Axt die Wurzeln abhacken. Das darf nie geschehen. Ich wünsche mir, dass dem Ditschens Willi beide Arme und sein verbliebenes Bein abfaulen, wenn er dem Wunder Gottes das Geringste antut. Wenn es darum geht, das Wunder Gottes zu beschützen, stehen Mutti, Oma und Tante Marie fest an meiner Seite. Sie wollen mit dem Ditschens Willi noch einmal wie vernünftige Menschen reden, aber nur unter der Bedingung, dass ich meinen Teil dazu beitrage und den alten Mann nicht immer wieder mit Unarten gegen mich aufbringe. Das habe ich versprochen. Trotzdem habe ich mir mit Melli was ausgedacht, wie wir ihn ärgern können, aber das zählt nicht, weil wir nicht so dumm sind und uns nicht dabei erwischen lassen.

 

 

2

Tag- und Nachtgeschichten

Weil ich sehr gerne Geschichten höre, bekomme ich auch jeden Tag welche erzählt. Meistens sind es Geschichten aus der Bibel oder aus dem großen Afrikabuch mit den vielen bunten Bildern. Es ist nicht immer leicht, mit den Geschichten klar zu kommen und gut und böse von einander zu trennen, weil manches nicht so gut oder so böse ist, wie sie es mir einreden wollen. Auch kann ich den Unterschied zwischen einem Märchen und einem Gleichnis nicht erkennen. Mutti meint, das kommt alles noch, wenn ich älter bin. Jetzt soll ich mir die Geschichten erst einmal anhören und merken. Irgendwann im Leben, bei einer passenden Gelegenheit, wird mir die eine oder andere Geschichte wieder einfallen, und dann habe ich gleich ein Beispiel zur Hand, das mir hilft, eine Entscheidung zu treffen. Die Geschichte vom verlorenen Sohn, die mir die Großel besonders oft und gern erzählt hat, ist eine von diesen besonderen Geschichten. Sie ist für die Menschen von Bedeutung, die einmal in dem Altenstübchen wohnen werden, wenn ich erwachsen und der Bestimmer über das Haus geworden bin.

Die Geschichte steht im Evangelium vom Apostel Lukas geschrieben und geht so: Es war einmal ein Bauer, der hatte zwei Söhne, einen guten, der immer gehört hat und einen schlechten, der Flausen im Kopf hatte. Der schlechte Sohn ließ sich sein Erbe vom Vater geben und haute damit ab in die weite Welt. Dort feierte er immerzu wilde Feste, auf denen es viel zu essen und zu trinken gab. Eines Tages war das viele Geld alle, und er konnte sich nicht einmal mehr ein Stück Brot kaufen. Die Freunde, die mit ihm gefeiert hatten, wollten ihm nicht helfen und waren keine echten Freunde. Vor lauter Hunger verdingte er sich als Schweinehirt und hoffte, etwas aus dem Trog der Schweine stibitzen zu können, aber der Schweinebesitzer war ein geiziger Kerl, der ihm nicht erlaubte, sich das Futter mit den Schweinen zu teilen. Da fiel ihm ein, wie schön er es bei seinem Vater gehabt hatte und er beschloss, nach Hause zurückzukehren und um Verzeihung zu bitten. Als der Vater ihn kommen sah, freute ihn das so sehr, dass er ein großes Fest bereiten ließ. Er zog seine besten Kleider an und ließ das dickste Kälbchen schlachten. Da kam der gute Sohn von der schweren Feldarbeit nach Hause, sah den ganzen Aufwand und konnte nicht begreifen, warum der Vater das alles tat. Immerhin war er derjenige, der die ganze Zeit über doppelt geschuftet und dem Vater niemals Kummer bereitet hatte, jedoch nie ist ihm zu Ehren ein Fest bereitet worden. Der Vater aber sagte, er soll nicht eingeschnappt sein, sondern freudig mit ihnen feiern, denn schließlich sei es so, als wäre sein Sohn verloren gewesen und nun wieder gefunden worden und dass sei Anlass zur Freude und ein großes Fest wert.

Ich kann nicht glauben, dass der Vater gerecht gehandelt hat. Auf jeden Fall hätte ich dem guten Sohn als Dank für die viele Arbeit ein Fest bereitet und dem schlechten Sohn soviel von dem Essen abgegeben, dass er ordentlich satt geworden wäre und ihn dann aufs Feld zum Arbeiten geschickt. Das erscheint mir gerechter. Eine leise Stimme  flüstert mir zu, dass der brave Sohn bei der ganzen Sache nicht gut wegkommen ist und den Dummen macht, aber das behalte ich lieber für mich. Die Großel hat immer wieder darauf hingewiesen, dass es hier darauf ankommt, dass der schlechte Sohn seine Taten ernsthaft bereut und deshalb eine Chance bekommen muss und dass der Vater glücklicherweise ein so weites Herz hat, dass er den schlechten Sohn in seine Arme nimmt und vergibt, was er Unrechtes getan hat. Ich soll aber auch daran denken, dass ein Mensch ohne eigene Schuld in eine verzwickte Lage geraten kann, und in so einem Fall ist es noch wichtiger, dass ihm geholfen wird, besonders dann, wenn es sich um ein Familienmitglied handelt. Und wenn es der Fall sein sollte, dass man von jemandem zu Unrecht gekränkt wurde, so muss man sich den Vater mit dem weiten Herzen zum Vorbild nehmen und verzeihen können. „Grit, meine Kleine“, hat sie gesagt, „du musst immer ein offenes Herz für die Nöte anderer Menschen haben, und es steht in Gottes Wort geschrieben, du sollst sogar deine Feinde lieben.“

Ich glaube nicht, dass ich meine Feinde lieben kann. Der Ditschens Willi von nebenan und die Schwester Martha aus der Sonntagsschule sind meine Feinde, und ich werde sie niemals lieben. Niemals! Über Jutta Röckl will ich nachdenken. Ihr könnte ich verzeihen, aber dann verliere ich Melli als Freundin, und das will ich nicht. Pans und Röckls sind keine Freunde, und ich habe gehört wie Herr Pan Juttas Vater einen Kommunisten geschimpft hat, das kann nichts Gutes bedeuten. Oma hat gesagt: „Bleib du bei Melli, das ist besser so.“ Die Schwester Martha ist eine blöde Kuh. Sie nimmt mich in der Sonntagschule mit Absicht nicht dran, wenn ich mich melde. Dabei weiß ich alle Fragen viel richtiger zu beantworten als andere Kinder. Davon will die Schwester Martha aber nichts wissen. Sie hat mich noch kein einziges Mal gelobt, nur mit ihren spitzen Finger auf mich gezeigt und gesagt: „Du hälst deinen vorlauten Mund, bei dir ist das ja kein Wunder.“ Um sie zu ärgern, habe ich mit den ganzen Gesangsbüchern einen Turm gebaut und den Turm mitten im Gebet mit dem Fuß umgeschubst. Da ist sie aber erschrocken, und ich bin gleich am nächsten Sonntag in die Mittelgruppe gekommen, dort sind die Kinder, die schon in die Schule gehen und lesen können, erste bis fünfte Klasse. Die Mittelgruppe wird von meiner Mutti geleitet, und sie kann viel schönere Geschichten erzählen als die Schwester Martha.

Der umgeschubste Turm ist nicht der einzige Grund, weshalb ich in die Mittelgruppe gewechselt bin. Der Grund ist eine Geschichte, die die Schwester Martha jedes Mal erzählt, wenn eine Neue in die Kleinengruppe kommt. Die Geschichte handelt von einem kleinen Mädchen, dessen Eltern gestorben sind. Das Mädchen hat kein Zuhause mehr. Es ist mutterseelenallein auf der Welt. Weil es nicht hübsch aussieht und obendrein noch einen Buckel hat, will es keiner haben. Mitten im kalten Winter läuft es barfuß und ohne Mantel durch die leeren Straßen der Stadt. Als es vor Hunger und Kälte ganz matt geworden ist und keinen Schritt mehr laufen kann, setzt es sich in eine Schneewehe und schläft ein. Da erscheint dem kleinen Mädchen plötzlich ein wunderbares Licht, und es wird ihm wieder warm ums Herz. Aus dem Rücken wachsen ihm zwei prächtige Flügel. Es erhebt sich mit Leichtigkeit von der Erde und fliegt geradewegs in das wärmende Licht hinein, immer weiter und weiter und höher und höher. Oben im Himmel beim lieben Gott wird das Mädchen bereits von ihren Eltern erwartet. Sie umarmen und küssen einander und bleiben von nun an für immer vereint und glücklich und wollen nie wieder in das irdische Jammertal zurück.

Die Geschichte von dem armen, kleinen Mädchen hat mich nicht in Ruhe gelassen. Deshalb habe ich meinen ganzen Rücken vor dem Spiegel abgesucht, um zu erkunden, wo genau die Stelle ist, aus der die Flügel herauswachsen, aber keine gefunden. Vielleicht ist die Geschichte gar nicht wahr, und die Schwester Martha eine Lügnerin?  Allerdings haben auch die Engel auf den Bildern herrliche Flügel am Rücken mit vielen Federn dran, eine flaumige Pracht, die man auch Schwingen nennt, und es muss irgendwie möglich sein, dass sie wachsen. Da kam mir die Idee, das mal auszuprobieren, und ich bin losgegangen, genauso wie es das Mädchen getan hat, immer weiter und weiter weg, erst durch den Park, dann ein Stück den Fluss entlang und dann den Pfad hinauf in die Berge, der zum Pulverturm führt. Als die Sonne tief am Himmel stand und mir die Füße weh taten, habe ich mich auf einen Stein gesetzt und mitten hinein in das rote Licht geguckt, bis alles um mich herum geflimmert hat. Dabei bin ich müde geworden. Bis zu diesem Punkt war alles nicht schwierig gewesen, und es war der Moment gekommen, wo die Flügel hätten sprießen müssen. Doch genau in diesem Augenblick wurde ich unsanft gerüttelt, und eine ferne Stimme fragte erstaunt: „Grit, was machst du denn hier so allein?“ Noch wie im Traum antwortete ich: „Ich bin ein armes, verlassenes Waisenkind und habe niemanden mehr auf der Welt. Ich ziehe aus, um im Himmel ein Engel mit weißen Schwingen zu werden.“ Da packte mich die Frau mit festem Griff und stellte mich auf die Beine. „Na, da komm mal mit mir mit“, sagte sie, „deine Mutti wird sich längst Sorgen um dich machen.“  

Als sie mich zu Hause ablieferte, waren Mutti, Oma und Tante Marie sehr aufgeregt.  Mutti drückte mich fest an sich und fragte: „Kind, wie konntest du nur weglaufen und Frau Bachmann solche Lügengeschichten erzählen, wie konntest du nur?“ Oma murmelte: „Mich wundert schon seit geraumer Zeit, was für sonderbare Gedanken dem Kind im Kopf herumschwirren.“ Ich habe nichts verraten. Später schnappte mich Tante Marie im Treppenhaus und sagte eindringlich: „Nun mal heraus mit der Sprache!“ Vor Schreck habe ich alles ausgeplaudert. Da ist sie gleich zu Mutti und Oma gerannt und hat sich noch mehr aufgeregt und gesagt: “Nun habt ihr die Quittung dafür, was ihr dem Kind für einen Unfug erzählt. Ein Engel wollte es werden. Als ob das so einfach wäre. Ihr solltet das Kind Achtung vor diesen wunderbaren Geistgeschöpfen lehren statt ihm solchen kindischen Firlefanz auftischen.“ Mich hat sie aber kein bisschen ausgeschimpft.

Obwohl ich jetzt in der Mittelgruppe bin, ist die Schwester Martha immer noch hinter mir her und tut so, als hätte sie mir was zu sagen. Sie hat mich am Ohrläppchen gezogen und wie eine Schlange gezischelt: „Na warte nur, Grit Sorgenfrei, keiner kann unseren Herrgott ungestraft veralbern, auch du nicht.“ Ihre Stimme klingt richtig zum Fürchten, und sie sieht aus wie ein langes, dürres Nachtgespenst mit einer dicken Brille auf der spitzen Nase, und ihre Augen glotzen einen an wie die von einem Frosch. Die dünnen, grauen Haare hat sie zu einem Zopf geflochten, den sie mehrfach um den Kopf herumgewickelt hat. Damit sie den Zopf nicht immer neu flechten muss, hat sie meistens eine weiße Haube auf, und ihr schwarzes Kleid ist so lang, dass sie damit die Fusseln vom Fußboden wie ein Kehrbesen hinter sich her schleift. Die Schwester Martha hat keinen Mann und keine Kinder und wohnt gleich neben der Sonntagsschule im Diakonissenhaus in einem kleinen Zimmer. Die Sonntagsschule ist in dem Haus, in dem auch die landeskirchliche Gemeinschaft ihren Gottesdienst abhält. Dort singt meine Mutti im Chor, und die Frau Bachmann spielt das Harmonium. Das weiß ich aber erst seit gestern. Blöd ist nur, das die Frau Bachmann die Engelsgeschichte ausgequatscht hat und mich die frommen Frauen so komisch angucken, irgendwie mitleidig oder ahnungsvoll oder so, als wollten sie gleich anfangen zu heulen. Am liebsten würde ich ihnen eine Fratze ziehen, aber ich tue es Mutti zuliebe nicht, damit sie sich meinetwegen nicht schämen muss.

Gestern war ich das erste Mal mit Mutti und Oma im Abendgottesdienst. Sonst muss ich um diese Zeit längst im Bett liegen. Eine von beiden passt dann auf mich auf, damit ich nicht allein bin, wenn ein Fliegeralarm kommt. Tante Marie passt auch gern auf mich auf, nur nicht, wenn sie in die landeskirchliche Gemeinschaft wollen. Sie sagt: „Das müsst ihr schon selbst organisieren.“ Der Grund, dass ich mit durfte, ist ein Gedicht mit vielen Strophen, dass ich vor den ganzen Leuten aufsagen sollte. Wenn ich die Augen zu mache, ist mir gleich wieder wie gestern Abend und ich sitze zwischen Mutti und Oma auf der harten, glatten Bank vorn in der ersten Reihe. Der Kehrreim des Gedichtes geht so: Auch die kleinen Kinder kommen oft in Not / und ihr kindlich Flehen hört der liebe Gott / kannst ihm alles sagen / alles was die quält / weil er auch in finstren Tagen immer zu dir hält… „Grit, du bist jetzt dran“, flüstert Mutti mir zu, „und keine Bange. Mach alles so, wie wir es geübt haben, toitoitoi.“ Ich schrecke ein bisschen zusammen, dann stehe ich schnell auf, gehe vor zum Podium, steige die drei Stufen ohne zu stolpern hinauf und stelle mich neben das Harmonium auf den weißen Punkt, den jemand mit Kreide für mich da hin gemalt hat. Jetzt wird es ganz still im Saal, manche hüsteln rasch noch einmal oder schnupfen ins Taschentuch. Alle sehen mich an. Frau Bachmann greift sacht in die Tasten und spielt die Melodie von „Gott ist die Liebe“ zur Einstimmung. In mir entsteht ein seltsames Gefühl, mir ist, als würde ich schweben, als würde ich von der Melodie und dem Atem der Leute, die mich feierlich anstarren und auf das Gedicht warten, getragen. So etwas Schönes habe ich noch nie erlebt. Ich bin dann auch kein einziges Mal stecken geblieben und kam erst wieder richtig zu mir, als alle klatschten. Dann sah ich sie. Sie saß stocksteif in der dritten Reihe und rührte keinen Finger. Da packte mich Zorn, und ich wollte sie zwingen, für mich in die Hände zu klatschen. Kurz entschlossen begann ich mein Gedicht noch einmal von vorn. Wieder klatschten alle Beifall, nur Schwester Martha nicht. Warum klatscht sie nicht, wo doch alle anderen für mich klatschen? Zweimal sogar. Ich habe keinen einzigen Fehler gemacht, und da muss sie für mich klatschen, sie muss, anders geht das nicht. Als ich noch einmal von vorn beginnen wollte, kam Mutti eilig angelaufen und holte mich vom Podium runter. „Was hast du dir dabei nur gedacht“, fragte sie bedrückt, „es hat doch alles beim ersten Mal so gut geklappt?“ Auch Oma rutschte unruhig hin und her und tuschelte Mutti zu: „ Du kannst ihr nicht alles durchgehen lassen.“  Als alles vorbei war, stand die Schwester Martha neben dem Prediger an der Tür und reichte jedem die Hand zum Abschied. Sie fixierte mich schon von weitem wie eine Spinne, die eine unschuldige kleine Fliege noch ein bisschen im Netz zappeln lässt, bevor sie mit der Klatsche ausholt. Es gab kein Entrinnen, ich musste an ihr vorbei, ihr die Hand reichen und einen artigen Knicks machen. Sie lächelte scheinheilig, beugte sich zu mir herunter und flüsterte mir ins Ohr: „Mit mir treibst du deine Spielchen nicht, du kleine aufmüpfige Göre. Merk dir das.“ Sie ist wirklich eine Hexe. Ich würde Schwester Martha ihre Schlechtigkeit nie verzeihen und in unser Altenstübchen würde ich sie nie einlassen. Nie! Als die Großel mir das von dem verlorenen Sohn erzählt hat, hat sie nicht gewusst, dass es so schlechte Schwestern auf der Welt gibt, wie die Schwester Martha eine ist. Ich bin mir ganz sicher, wenn die Schwester Martha verloren geht, wird sich keiner freuen, wenn sie wiedergefunden wird.

Der Ursprung der Flügel aber von dem Mädchen in Schwester Marthas Geschichte ist mir noch immer unerklärbar. Melli hat gesagt, ihr ist es egal, ob es Engel gibt, im Märchen vielleicht, sie hat noch keinen gesehen, und Flügel haben nur die Vögel. Jutta Röckl hat noch nie etwas von Engeln gehört. Sie war auch noch nie in einer Kirche innen drin. Im Bett ist mir dann eingefallen, dass ich etwas Wichtiges nicht bedacht habe: Das kleine Mädchen hatte einen Buckel. Da fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Die Flügel stecken in den Buckeln, da haben sie genug Platz, und nur wer auf Erden einen Buckel hat, kann ein Engel werden und in den Himmel fliegen. Im nächsten Augenblick lief es mir eiskalt den Rücken runter. Ich sah vor mir die spindelige Schwester Martha, wie sie sich zu mir herunter beugt, um mir was Gemeines zu sagen, und dabei wird ihr Rücken immer krummer und krummer, so krumm wie der vom Fips, wenn der in unserem Garten ein Schläfchen gemacht hat und aufsteht und sich reckt und streckt und rund macht. Entsetzt musste ich mir eingestehen, dass diese Erkenntnis schreckliche Auswirkungen für mich haben kann, denn wenn die Schwester Martha in den Himmel kommt, dann ist der ganze schöne Himmel für mich futsch, dann will ich da nicht hin, nie und nimmer, zumindest nicht in die Gruppe, in der sie herumflattert.

Mutti hat entschieden, dass ab sofort nur noch Geschichten erzählt werden, die sie genehmigt hat und die meinem Alter entsprechen und dass zwischen Tag- und Nachtgeschichten unterschieden wird. An diese Entscheidung müssen sich auch Oma und Tante Marie halten. Abends oder auch nachts, wenn wir  wegen eines Fliegeralarms nicht schlafen können, dürfen nur Geschichten mit gutem Ausgang erzählt werden, damit ich mich später unter meiner Bettdecke nicht fürchten und vor lauter Angst brechen muss, wie das schon einige Male passiert ist. Mutti will auch, dass ich die Geschichten mit eigenen Worten wiedergebe, damit sie daraus erkennen kann, was sich in meinem Kopf abspielt. Das ist ein schönes, neues Spiel und macht mir Spaß, denn ich erzähle gern und frage gleich, welche Geschichte es denn bitteschön sein soll. Sie sagt: „Wähle selbst.“ Das ist schon schwieriger. „Zwei Geschichten“, frage ich vorsichtig, „die vom Kilimandscharo und die von Jairus Töchterlein?“ Ich soll mich für eine von beiden entscheiden.

Die Geschichte vom Kilimandscharo stammt aus dem Buch mit den prächtigen, farbigen Bildern über Deutsch-Ostafrika, das ich nur mit frisch gewaschenen Händen anfassen darf. Der Kilimandscharo ist fast sechstausend Meter hoch und der höchste Berg von Afrika. Sechstausend Meter, das ist höher als der Kirchturm und höher als die Wolken. Vor vielen, vielen Jahren hat der Berg Feuer ausgespuckt. Wenn man ganz oben auf der Spitze angekommen ist, kann man in ein tiefes Loch sehen, den Krater. Vom Krater reicht ein Gang tief in die Erde hinein, wahrscheinlich bis zur Hölle. Weil der Gang sehr gefährlich ist, heißt er Schlund. Die Hölle beginnt dort, wo das Feuer immer und ewig brennt. Manchmal wird es da unten so heiß und eng und qualmig, dass es das Feuer nicht mehr aushält und abhaut. Dann kriecht es mit Gebrüll durch den Schlund nach oben, und der Berg spuckt es in weitem Bogen aus, über das ganze Land hinweg, und alles, was es erwischt, verglüht zu Schutt und Asche, auch die Menschen, aber um die ist es nicht schade, weil sie meistens Kannibalen sind, sich bekriegen und gegenseitig auffressen. Nicht nur Berge, auch Drachen und Flugzeuge können Feuer spucken und alles kaputtmachen…

„Ich erzähle die von Jairus Töchterlein“, entscheide ich. „Das holde, liebliche und folgsame Töchterlein des Jairus war plötzlich gestorben. Alle weinten sehr um das Mädchen, am meisten aber weinte der Vater Jairus. Er konnte sich nicht beruhigen und wehklagte viele Tage und Nächte lang. Da kam der Herr Jesus des Weges und hörte von dem traurigen Geschehen. Er betrat das Haus des Jairus, ergriff die Hand des bleichen Mädchens und befahl ihm: Stehe auf! Das Töchterlein öffnete die Augen, sah erstaunt um sich, lächelte und fragte: Was ist geschehen, und warum guckt ihr so traurig? Es konnte nicht begreifen, warum so viele Leute herumstanden und weinten, wo es ihm doch gut ging und es nur ein bisschen geschlafen hatte.“

An dieser Stelle steigen immer wieder Zweifel in mir auf, obwohl ich alle, besonders aber Tante Marie, über die Auferweckung ausgefragt habe. Sie hat gesagt, dass der Herr Jesus damals solche Sachen gemacht hat, um den Menschen zu beweisen, dass er alles kann, auch das scheinbar Unmögliche. Der Haken an der Sache ist, dass Menschen, die jetzt sterben, erst eine Weile tot bleiben und warten müssen, bis sie mit der Auferstehung dran sind. Wir werden alle erst in der großen Schlacht Gottes aus den Gräbern herausgeholt, und die wird noch schlimmer sein als der Krieg jetzt. Da werden die guten Menschen von den schlechten Menschen aussortiert. Die guten Menschen dürfen wieder leben, die schlechten aber werden für immer ausgerottet. Mutti möchte nicht, dass Tante Marie sich so krass ausdrückt, aber Tante Marie tut das nur, weil sie will, dass ich auf mich aufpasse und im Ernstfall nicht aus Versehen unter die schlechten Menschen gerate. Sie meint es gut mit mir. Trotzdem möchte ich Mutti etwas fragen.

„Ist tot sein wirklich nur wie schlafen?!

„So kann man es sich vorstellen. Ja“

„Und kann der arme Herr Jesus wirklich jeden von den Toten auferwecken?“

„Das kann er. Das hat er mehrfach bewiesen.“

„Aber er ist nicht mehr da.“

„Er wird wieder zu uns Menschen zurück kommen – weil er uns liebt.“

„Könnte er mich dann auch auferwecken?“

„Ja, sicher.“

„Dich auch?“

„Mich auch. Jetzt wird aber geschlafen. Und sag nicht immer: der arme Herr Jesus. Er ist nicht arm, er ist reich und voller Güte, und wir alle können dankbar sein, dass er für uns auf die Welt gekommen ist.“

„Tante Marie sagt, er ist für uns gestorben. Mit viel Schmerzen…“

„Beides, mein Kind. Vor allem aber ist er für uns vom Himmel herunter auf die Erde gekommen - aus Liebe zu den Menschen.“

Von solchen Wundern zu hören, tut gut, besonders vor dem Einschlafen. Im Schlafzimmer haben wir nur eine Kerze brennen. Sie verbreitet mehr Schatten als Licht. Das macht ganz heimelig. Ich kann nicht anders, ich muss Mutti noch einmal umarmen. Dabei stecke ich meine Zunge heraus, mache sie spitz und lang und falte sie zusammen und versuche, mit meiner Zunge auf Mutti Zunge zu tippen. Bei dem Spiel muss man schnell sein und gut aufpassen. Ich spiele es nur mit Mutti. Es ist unser Spiel und geht so: Mund auf, Zunge raus, Zunge rein, Mund zu. Immer, wenn Mutti ihre Zunge nicht schnell genug versteckt und die warmen, weichen Zungenspitzen aufeinandertreffen, habe ich gewonnen und rufe: „Peng, getroffen!“

 

 
 
 
 

3

Lirum Larum Löffelstiel

Wir sind arme Menschen. Arm ist, wer nicht genug zu essen hat. Die Ärmste in unserer Familie ist die Oma, denn sie hat immer Hunger. Von dem vielen Hunger bekommt sie Magenkrämpfe. Sie wird dann grüngelb im Gesicht und jammert: „Ich muss mich übergeben.“ Das Schlimme ist, dass sie nichts zum Übergeben im Magen hat, und deshalb gehen die Krämpfe auch nicht weg. Vielleicht kommen die Schmerzen aber auch von den Abfällen, die sie sich zubereitet, meistens Kartoffelschalen mit bisschen Salz überstreut. Aus den Schalen hat sie sogar Kuchen gebacken. Der Kuchen sieht schwarz aus und riecht und schmeckt eklig. Die paar Löffel Kloßbrühe, die Oma sonntags aus Pans Kochtopf abbekommt, sind hingegen ein Festschmaus für sie, und ich bin heilfroh, dass Omas Magen so schlau ist, dass er den ekligen Kuchen von der sämigen Brühe unterscheiden kann, denn sie sagt: „ Die Brühe ist eine Wohltat für meinen empfindlichen Magen.“

Mutti ist eine wahre Hungerkünstlerin, denn sie beklagt sich nie. Sie kann fast nur von Luft leben und behauptet sogar: „Gute Luft ist ein echter Genuss.“ Manchmal schnappen wir gemeinsam nach großen Happen Luft und schlürfen die unsichtbare Köstlichkeit tief in uns hinein. Luft kann sehr gut schmecken, zum Beispiel nach dem prachtvollen Inhalt von Pans Fleischtopf, wenn die beim Braten das Fenster offen haben und der Wind günstig steht. Der Duft kommt dann direkt zu uns herüber und huscht in unser Fenster rein. Wir stehen hinter dem Vorhang versteckt, atmen tief ein und aus und tun uns an den besten aller Düfte laben. Oma verrät mir mit verklärter Stimme, um was für eine Fleischsorte und Zubereitungsart es sich handelt. Sie hat eine gute Nase und weiß das noch von vor dem Krieg. Ich kann inzwischen sicher unterscheiden, ob es bei Pans Hammel, Sauerbraten oder Rouladen gibt, nur wie das alles aussieht und schmeckt, das weiß ich nicht. In der Kloßbrühe, die Melli sonntags nach dem Essen zu uns rüberbringt, stochere ich dann herum, weil ich mir wünsche, dass wenigstens ein ganz kleines Stückchen Braten darin herumschwimmt – vergebens. Das ist ärgerlich und kommt daher, weil die Klöße nicht in dem gleichen Topf zubereitet werden wie das Fleisch. Oma sagt streng: “Dass du mir Melli gegenüber ja nichts von dem Braten erwähnst! Pans könnten dich für undankbar halten, und was ist, wenn sie die Brühe jemand anderem schenken?“ Das wäre wahrlich schlimm. Auf meinen Kloß mit den drei feinen Rösteln mitten drin möchte ich auf keinen Fall verzichten.

Der wertvolle Kloß wird von Mutti behutsam auf einen Teller gelegt und mit zwei Gabeln in kleine Stückchen gerissen, eins bekommt Oma, eins Mutti und alle anderen ich. Mutti sitzt dann neben mir und passt auf, dass ich beim Essen nichts falsch mache. Ich muss ganz langsam essen und jeden Bissen zweiunddreißigmal kauen, damit er richtig durchspeichelt wird. Zum Schluss ist dann alles dünn wie Wasser und rutscht fast ohne Schlucken runter. Der Höhepunkt ist erreicht, wenn ich die Rösteln in den Mund stecken darf, denn dann sagt Oma meistens: „Nun spring mal nach oben zu Tante Marie, Grit“, was ich mir aus gutem Grund nicht zweimal sagen lasse.

In Tante Maries Schlafkammer, auf der Kommode hinten in der Ecke, steht nämlich immer ein Schälchen bereit mit was Gutem drin für mich, mal ein Keks, mal ein Himbeerbonbon, mal ein Apfel oder ein Schnapsglas voll Dickmilch mit Zucker oben drauf. Jedes Mal, wenn ich mich auf die Fußspitzen stelle und mit der Hand in die Schale lange, um den Leckerbissen zu ertasten, spüre ich eine begehrliche Spannung in mir. Erst wenn ich den Leckerbissen erraten habe, nehme ich ihn heraus, beschnuppere ihn rundum und lasse ihn genüsslich in mir verschwinden. Das ist ein großer Augenblick!

Wovon sich Tante Marie am Leben erhält und wo sie die Leckerbissen für mich auftreibt, ist nicht zu erklären. Es muss dabei mit einem Wunder oder nicht mit rechten Dingen zugehen. Oma mutmaßt, dass sie eine geheime Quelle hat oder sogar eine Beziehung zum Feind, aber Mutti schüttelt tadelnd den Kopf. Oma soll nicht so leichtsinnig daherreden, denn jeder Mensch hat den Drang zu überleben und das Recht und sogar die Pflicht, sich einen Kopf zu machen, wie er das zuwege bringt, und man muss es Tante Marie hoch anrechnen, dass sie dabei immer an die Kleine denkt. Die Kleine bin natürlich ich. Und ich habe auch mitbekommen, wie Oma geantwortet hat: „Na dann, Elfrun, die nächste, die sich was einfallen lassen muss, bist du. Lange steh ich das nicht mehr durch.“

Das Wort „Quelle“ hat sich in meinem Kopf eingenistet und stellt mir Fragen. Was hat Oma wohl damit angedeutet? Und warum hat Tante Marie so eine Quelle und warum haben wir keine? Das möchte ich für mein Leben gern herausbekommen, zumal solch eine Quelle eine feine Sache ist, wenn sie sprudelt. Und vielleicht ist es so, dass bei einer solchen Quelle noch viel mehr von den feinen, roten Himbeerbonbons zu entdecken sind… Dann könnte ich Melli jeden Sonntag eins schenken, wenn sie mit ihrer Brühe ankommt. Die würde Augen machen!

Tante Marie war gerade mit Bibel lesen beschäftigt, als ich oben ankam. Da ich sie dabei nicht stören darf, krabbelte ich auf allen Vieren um sie herum und zupfte sie so lange am Rocksaum, bis sie mich endlich wahrnahm und das Buch aufgeschlagen beiseite legte.

„Na, Kind, du hast doch etwas auf dem Herzen?

„Ich, ähh, ich… Hast du auch immer so großen Hunger wie Oma?“

„Es fragt sich nur worauf, auf leibliche oder geistige Speise?“

„Auf Himbeerbonbons und Fleischbraten.“

Tante Marie sah mich durchdringend an. Mir wurde ein bisschen Bange. Ob ich das hätte lieber nicht fragen sollen? Aber jetzt lächelte sie freundlich, umfasste mich und zog mich zu sich auf den Schoß. Mit der freien Hand griff sie nach der Bibel. Die Bibel ist richtig schön bunt, denn auf jeder Seite sind wichtige Sätze unterstrichen - rot, blau, grün und gelb. Sie blätterte ein bisschen darin herum und murmelte: „Gleich werden wir es haben.“ Ich war sehr gespannt und wurde deutlicher.

„Oma sagt, du hast eine geheime Quelle.“

„Soso. Da wollen wir die Quelle gleich mal anzapfen. Hier steht es. Matthäus sechs. Hör gut zu, Grit, was der Herr denen gesagt hat, die sich immerfort Sorgen um ihr leibliches Wohl machen: Seht die Vögel unter dem Himmel an, sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in die Scheunen, und euer himmlischer Vater ernährt sie doch.“ Sie machte eine Pause, sah mich bedeutungsvoll an und las weiter: „Schaut die Lilien auf dem Felde, wie sie wachsen, sie arbeiten nicht, auch spinnen sie nicht…“ Wieder traf mich einer ihrer bedeutungsvollen Blicke, ehe sie fortfuhr: „Oh, ihr Kleingläubigen, darum sollt ihr nicht fragen: Was werden wir essen? Was werden wir trinken? Euer himmlischer Vater weiß, was ihr alles braucht.“ Tante Marie hob jetzt den Zeigefinger ihrer rechten Hand in Richtung Zimmerdecke, schüttete ihn heftig hin und her und sprach jedes einzelne Wort mit Nachdruck: „Trachtet aber zuerst nach dem Reich Gottes und seiner Gerechtigkeit, so wird euch das alles zufallen. Darum sorget nicht für morgen, denn der morgige Tag wird für das Seine sorgen.“ Sie klappte die Bibel zu.

„Hast du das verstanden, Kind?“

„Nein, ja, nein.“

„Gott will, dass du deine Zeit nicht damit vergeudest zu barmen und dir Sorgen zu machen. Er wird für dich sorgen. Du musst ihm nur vertrauen, von ganzem Herzen vertrauen.“

„So wie du?“

„Ja, so wie ich. Vertrauen, das ist die Bedingung.“

„Dann ist das doch ganz einfach.“

„So einfach ist das nicht. Wenn es so einfach wäre, würden alle Menschen Gottes Wort befolgen, und wir hätten diesen schrecklichen Krieg nicht, auf der Erde würde Friede sein, und die Menschen würden in einem herrlichen Garten leben. Satan, der Teufel, tut alles, um die Menschen…“

Mir war plötzlich ganz leicht ums Herz geworden, denn ich fühlte in mir den Drang, Tante Maries Worte in Taten umzuwandeln. Deshalb hörte ich nicht weiter hin, was sie von Satan, dem Teufel, zu berichten hatte, sondern entwand mich ihren Armen und trollte davon, runter in unsere Wohnung, wo ich mich verkriechen und ungestört nachdenken wollte, wie und wo die Quelle zu finden ist, aus der die ganzen Herrlichkeiten sprudeln, die der liebe Gott denen in Aussicht stellt, die ihm von ganzem Herzen vertrauen.

Bei uns unten herrschte aber nicht annähernd so fröhliche Stimmung wie bei Tante Marie oben im Altenstübchen. Oma schluchzte, und Mutti sprach begütigend auf sie ein, aber das nutzte nichts, weil sie wieder ihre Krämpfe hatte. In diesem Zustand war Oma kein schöner Anblick, und ich fürchtete mich vor ihr fast genau so sehr wie vor der kranken Frau Sperling im Erdgeschoss. Weil sie mich nicht bemerkten, blieb ich an der Tür stehen und belauschte ihr Gespräch.

„Ich werde wieder etwas verkaufen“, sagte Mutti

„Tu das, Elfrun, tu das bald“, wimmerte Oma.

„Es bleibt nicht mehr viel, woran jemand Interesse haben könnte – die Nähmaschine, das Fahrrad, mein Ring… Wir müssen es einteilen.“

Mutti betrachtete den schmalen, goldenen Ring an ihrer rechten Hand, drehte daran herum und zog ihn ab. Das ging ganz leicht, denn ihr Finger war längst so dünn wie das Stöckchen, das Hänsel der Hexe durchs Gitter gesteckt hat. Sie seufzte: „Was wird Fritz dazu sagen?“

„Der Ring ist zu ersetzen“, befand Oma. „Alles ist zu ersetzen, nur das Leben nicht.“

„Das ist wahr“, sagte Mutti einsichtig und tätschelte beruhigend Omas Arm, wobei sie sich ein wenig zur Seite drehte und mich in der Tür stehen sah. Ihr Gesicht veränderte sich von einer Sekunde zur anderen, und sie sagte fast fröhlich: „Grit, was hältst du davon, wenn wir uns einen richtigen Festschmaus bereiten?“ Wie rasch doch alles ging. Ich nickte freudig mit dem Kopf, und Oma sagte schwärmerisch: „Bratkartoffeln mit Zwiebeln und Speck, vielleicht noch ein Spiegelei, ein paar Körner Kümmel...“

Wir begannen sofort mit dem Pläneschmieden. Wichtig war, dass wir einen Käufer für Muttis Ehering fanden, einen Käufer, dem der Ring mindestens so viel wert war, wie uns die Bratkartoffeln. Da es nicht das erste Mal war, dass Mutti etwas verhökerte, sagte sie: „Ich gehe damit zum Stöber Franz auf den Hainberg, der hat mir bisher immer etwas gegeben.“ Oma  erwiderte: „Der Stöber Franz ist ein Halsabschneider, aber wir haben keine Wahl.“

Gleich am nächsten Tag, die Morgenröte hing noch wie kaltes Feuer am Himmel und der verharschte Schnee knirschte bei jedem Schritt unter den Füßen, machten wir uns mit dem frisch polierten Ring auf den Weg zum Stöber Franz. Der Stöber Franz war gar nicht so schlecht, wie ich nach Omas abschätzender Bemerkung befürchtet hatte. Na ja, er sah nicht schön aus, und eine Glatze hatte er auch und auffallend kurze Beine, aber wenn er uns zu einem Festschmaus verhelfen konnte, dann war er zumindest ein reicher Mann. Mutti erklärte ihm, was sie für den Ring haben wollte. Er hörte geduldig zu, ohne ihre Rede zu unterbrechen, betrachtete abwechselnd die Mutti und den Ring, den er mit zwei Fingern gegen das Licht hielt, und sagte anerkennend: „Schau an, schau an, so jung noch und schon so ein großes Töchterchen.“ Er ließ den Ring in seine Jackentasche kullern, was ich als gutes Zeichen deutete. Danach ging er ein paar Schritte auf Mutti zu, und Mutti ging genauso viele Schritte zurück, so dass der Abstand zwischen ihnen immer der gleiche blieb. Plötzlich hob Mutti die Hände vor die Brust und tat so, als wollte sie einen Felsbrocken wegstemmen, und der Stöber Franz sagte: „Nichts für ungut, aber du willst doch was von mir.“ Mutti stammelte leise: „Bitte, ich bitte sie, bedenken Sie, das Kind. Nutzen sie meine Lage nicht aus.“

Das hatte der Stöber Franz auch nicht vor. Er sagte: „Warte hier“, und verschwand durch die Tür in ein Zimmer, aus dem es muffig roch. Als er wieder hereinkam, trug er eine Tüte aus Zeitungspapier in der Hand, die er auf dem Tisch auskippte.

„Zufrieden?“

„Sieben Stück?“ Mutti wirkte ein wenig verlegen, irgendwie bedäppert. Doch dann lächelte sie. „Danke, ich danke Ihnen.“

Vor uns auf dem Tisch lagen die Kartoffeln, von denen wir geträumt hatten, in voller Schönheit, sogar mit kleinen weißen Keimen dran, die man zwar nicht essen darf, die aber, wie ich weiß, wichtig sind, wenn aus der alten Kartoffel neue Kartoffeln wachsen sollen. Er griff noch einmal in die Jackentasche, in der vorhin der Ring verschwunden war, fischte ein schmales Glas mit Stöpsel heraus, deutete auf den Inhalt und legte es zu den Kartoffeln. „Mohnöl“, sagte er, „selbst gepresst. Seid vorsichtig, das reicht, um sich den Magen zu verderben.“

Ich starrte bereits erwartungsvoll auf die andere Tasche, in der sich etwas beulte. Und siehe da, auch in dieser Tasche war etwas verborgen, was für uns bestimmt war: ein Ei. „Heute früh gelegt. Ganz frisch“, sagte der Stöber Franz und legte das Ei vorsichtig zu den anderen Sachen auf den Tisch. Jetzt konnte Mutti wirklich zufrieden sein, und Oma würde ihre Meinung über den Stöber Franz gewiss ändern, wenn sie erst von seiner Freigebigkeit erfahren hatte. Wenn man bedenkt, so viele herrliche Esssachen für einen einzigen kleinen Glitzerring…

Oma hatte bereits den Küchenherd angefeuert und heißes Wasser bereitet. Die Kartoffeln konnten gleich in den Topf gesteckt werden. Wir haben einen weißen Emailleherd mit Herdringen. Die Ringe kann man mit dem Feuerhaken herausheben, so dass das Feuer besser an den Topf heran kann. Auf diese Weise kocht alles schneller und man spart Brennmaterial. Wir haben dass aber nicht nötig. Weil ich fast jeden Tag mit Melli zum Kohlenhof gehe, haben wir einen großen Vorrat an Briketts. Darauf bin ich sehr stolz. Mutti sagt immer wieder, dass wir ohne meine Hilfe längst erfroren wären.

Während die Kartoffeln kochten, behielt ich unser Ei und das Gläschen mit Öl im Blick. Beides lag friedlich nebeneinander auf dem Küchentisch. Was nun geschah hat keiner von uns voraussehen, geschweige denn verhindern können. Als erstes stolperte Oma über einen ihre Füße, ich weiß nicht mehr über welchen, und fiel gegen den Tisch. Sofort setzte sich das Ei in Bewegung und kullerte in Richtung Tischrand. Mutti und ich sprangen gleichzeitig auf, um das Ei zu retten. Dabei ging das Ei in Muttis Hand zu Bruch, und ich wischte aus Versehen mit dem Ärmel das Glasröhrchen vom Tisch. Es fiel zu Boden, zersprang und das selbst gepresste Mohnöl sickerte in die große Ritze zwischen den Dielenbrettern, welche Vati schon bei seinem letzten Besuch hatte zuschmieren sollen. Wir standen vor Schreck da wie die Frau vom Lot, nachdem sie zur Salzsäule erstarrt war. Dann begannen Oma und ich bitterlich zu weinen, und Mutti rettete die Pfatsche vom Ei in eine Tasse und versuchte, den Rest vom Öl aufzutupfen. In einem gewölbten Glasscherben war eine kleine Pfütze Öl verblieben, auch die ließ sich retten. Mutti goss das Restchen gleich durch ein Sieb, um es von Glassplittern zu befreien. Was übrig blieb, reichte nie im Leben für drei Personen oder vier, wenn wir Tante Marie mit einrechneten.

„Ich gehe noch einmal zum Stöber Franz und bitte ihn um etwas Öl. Das kann er mir nicht abschlagen. Verlasst euch darauf“, sagte Mutti mit fester Stimme. Sie nahm mich in die Arme, wischte mir die Tränen ab und streichelte meine Wangen. „Weine nicht, Grit, es war ein Missgeschick, eine Verstrickung von unseligen Zufällen. Da kann keiner etwas dafür. Niemand hat Schuld.“

„Nimm mich mit“, bettelte ich, noch immer schluchzend. „Bitte, bitte, nimm mich mit zum Stöber Franz.“

„Ich bereite alles vor“, versicherte Oma zerknirscht. „Wenn ihr wiederkommt, kann es gleich losgehen. Beeilt euch.“

Wir beeilten uns. Fest entschlossen, wie Mutti es war, um das Festessen zu retten, wagte es der Stöber Franz nicht, ihre Bitte um etwas Öl abzuschlagen, aber ein weiteres Ei ließ es sich nicht herausleiern, da blieb er hart. Dafür sollten wir bezahlen. Einen zweiten Ring hatten wir aber nicht zu vergeben, der war ja an Vatis Hand weit weg in Norwegen. Trotzdem freuten wir uns über das Öl und liefen so schnell wir konnten nach Hause zurück, wo Oma mit den garen Kartoffeln und dem Rest vom Ei gewiss sehnsüchtig auf uns wartete.

Bereits als wir die Haustür öffneten, drangen unangenehme Töne in unser Ohr, und nichts Gutes ahnend fasste Mutti meine Hand fester. Um ehrlich zu sein, es klang, als ob ganz in der Nähe jemand  würgte und kotzte. Dann hörten wir Tante Marie mit vorwurfsvolle Stimme sagen: „ Nun nimm dich aber zusammen, Johanna. Wir sind gleich auf dem Klo.“

Um auf unser Plumpsklo zu kommen, muss man im Treppenhaus drei Stufen nach unten gehen. Das Plumpsklo ist in einem kleinen Anbau eingerichtet und schön luftig und geräumig und bequem zu erreichen. Sperlings ihres ist genau darunter, aber sie können es nur über den Hof betreten, und es stinkt dort ein bisschen, weil gleich darunter die Odelgrube ist. Ich sitze gern auf unserem Plumpsklo, weil, wenn ich zu lange fort bin, bekommen alle Angst um mich, klopfen an und fragen, ob ich noch da bin. Das ist natürlich übertrieben, denn inzwischen bin ich so groß, dass ich,wenn ich reinrutsche, in dem langen Rohr, das runter in Odelgrube geht, stecken bleiben würde, und eigentlich ist es mir verboten, die Tür von innen zu verriegeln, aber ich tue es trotzdem.

Tante Marie warf uns einen Blick zu, der Bände sprach. Oma zog den Kopf zwischen die Schultern und guckte an uns vorbei. Ihre Haltung erinnerte mich an den Vogel Strauß in meinem Afrikabuch, von dem es heißt, dass er bei Gefahr den Kopf in den Sand steckt und in seiner Doofheit glaubt, dass er dann unsichtbar ist. Tante Maries Blick folgend, erkannten wir auf der Schwelle zur Küche, im Flur und auf den drei Stufen zum Klo verschiedene Pfützen und Klumpen, die da nicht hingehörten. Im nächsten Augenblick begann Oma sich zu krümmen, und während grässliche Töne aus ihrer Gurgel drangen, sprudelte ein Strahl aus ihrem Mund genau in unsere Richtung, so dass wir fix einen Schritt zur Seite springen mussten, um nicht getroffen zu werden.

„Mutter“, schrie Mutti entsetzt, „wie konntest du nur! Das kann doch nicht wahr sein.“ Dann eilte sie aber Tante Marie zu Hilfe, und beide bugsierten Oma aufs Klo. Ich huschte an ihnen vorbei in die Küche, sorgsam bemüht, nicht in die Bratsche zu treten, und dabei kam die Erkenntnis über den Grund des grausigen Geschehens über mich wie in Tante Maries Bibel die Offenbarung über den Johannes. Au weia! Alles war weg, einfach alles. Im Topf waren keine Kartoffeln mehr, die Tasse mit dem Rest vom Pfatschei war leer, und die Schale mit dem Rest vom Stöber Franz seinem selbst gepressten Mohnöl stand umgekippt im Abwasch.

Oma war zu keiner Erklärung fähig. Sie schlich sich davon in ihre Kammer und ließ sich für den Rest des Tages nicht mehr bei uns blicken. Sie schämte sich, weil sie schwach geworden war und mir ein Beispiel vorgelebt hat, wie es schlechter nicht sein konnte.

Nachdem Mutti alles aufgewischt und die Wohnung gelüftet hatte, ließ sie sich erschöpft in den Sessel fallen und sagte: „Grit, mein Kind, nun komm mal her zu mir. Jetzt wollen wir uns unterhalten.“ Ich kletterte flugs auf ihren Schoß und kuschelte mich an sie, denn mir war bei der ganzen Sache nicht wohl zumute. Auch wenn Oma eine ziemlich komische Figur abgegeben hatte, war ich doch traurig, einmal, weil der ganze Festschmaus futsch war und auch weil wir vergessen hatten, der Oma zu sagen, was uns der Stöber Franz mit auf den Weg gegeben hatte, nämlich, dass man sich mit dem Mohnöl den Magen gründlich verderben kann. Mutti war aber der Meinung, uns trifft keine Schuld, und für Omas Verhalten gibt es keine Entschuldigung, aber einen Grund. Sie erklärte mir den Zustand, in den man geraten kann, wenn man lange Zeit nichts Ordentliches zu essen bekommen hat. In diesem Zustand brennen einem die Sicherungen durch, alle Hemmungen gehen verloren, und im Gehirn bleibt ein einziger Gedanke übrig, der befiehlt, alles in sich hinein zu mampfen, was greifbar ist. So ist es auch der Oma widerfahren. Ihr Hunger war so groß, dass sie weder an ihren empfindlichen Magen noch an uns gedacht hat, nur noch: essen, essen, essen.

Noch im Bett vor dem Einschlafen habe ich immerzu über die arme Oma nachgedacht und darüber, dass ich ihr helfen möchte, etwas Essbares aufzutreiben, was ihr Kotzmagen nicht gleich wieder ausspucken muss. Und dabei bin ich gedanklich wieder bei Tante Maries göttlicher Quelle angelangt, die ich irgendwie zum Sprudeln bringen müsste. Nur wie wie wie?  Wie? In diesem Augenblick konnte ich nicht ahnen, wie nahe ich einem Zufall war, der mich auf eine heiße Spur leiten sollte…

Die Sache begann ein paar Tage nachdem Oma wieder aus der Versenkung aufgetaucht war und mich fragte, ob ich Lust hätte, mit in die Kirche zu kommen. Ich hatte keine Lust, denn ich wollte mit Melli zum Kohlenhof gehen und Briketts sammeln, aber Oma verlegte sich aufs Betteln, und da ließ ich mich breitschlagen.

„Wo wollt ihr denn hin?“ fragte Mutti erstaunt. Es kam nicht oft vor, dass ich mit Oma ausging, weil das meistens langweilig war oder, was noch schlimmer war, bei der spitznasigen Schwester Martha in der Diakonissenbude endete.

„Zu den Adventisten zum Abendmahl“, antwortete Oma etwas unsicher.

„Wir gehören zur Landeskirchlichen Gemeinschaft“, erwiderte Mutti. „Ich mag nicht so gern, wenn du von einem zum anderen läufst.“

„Aber bei den Adventisten ist besser geheizt“, begründete Oma unser Vorhaben.

Sie hatte Recht. Bei den Adventisten im Saal war es so schön mollig warm, dass wir den Mantel ausziehen und über unsere Kniee legen konnten. Der Gottesdienst ist hier nicht anders als in der Gemeinschaft. Jedenfalls konnte ich keinen Unterschied feststellen. Auch hier wird gesungen, gebetet und zugehört, was der Herr Pfarrer für eine Geschichte erzählt. Diesmal war es eine traurige Geschichte, die ich zudem bereits kannte. Sie handelte davon, wie die feigen Jünger den armen Herrn Jesus im Stich lassen und er ganz allein und verlassen in dem Garten Gethsemane herumsitzt und den lieben Gott fragt, ob es für die Erlösung der Menschen von ihren Sünden nicht einen besseren Weg gibt als den, dass er dafür sterben muss. Aber es gibt keinen anderen Weg, weil es vorherbestimmt ist, und das tut mir für den Herrn Jesus genauso leid wie die Sache mit dem Isaak, der von seinem Vater auf dem Altar geopfert werden sollte, bloß weil es der liebe Gott so wollte, und beides  ist ungerecht.

Wie ich noch in Gedanken versunken dasaß und nach einer Möglichkeit suchte, wie man den armen Herrn Jesus in letzter Minute hätte retten können, stupste Oma mich an, deutete mit einem Kopfruck in Richtung Gang und flüsterte: „Pass auf, jetzt kommt das heilige Abendmahl.“

Das heilige Abendmahl geht so: In die Bankreihe wird zuerst eine flache Schüsesel mit Brotstücken gereicht. Die sind ungefähr so groß wie die Rösteln in Pans Sonntagskloß. Hinterher kommt ein Glas mit was Rotem drin. Jeder nimmt zuerst ein Röstel aus der Schüssel in den Mund und danach einen Schluck aus dem Becher und reicht beide Behälter seinem Nachbarn weiter.

Wie nun die Schüssel immer näher zu mir heranrückte, kam mir eine Erleuchtung. Mit dem einen Ohr hörte ich undeutlich, was der Herr Pfarrer vom Leib Christi berichtete, Im anderen Ohr aber hörte ich Tante Maries Stimme von den Vögeln unter dem Himmel und den Lilien auf dem Felde jubilieren, und da wusste ich ruckzuck: Das ist der Quell, und er kommt geradewegs auf mich zu. Jetzt hieß es, die unverhoffte Gunst zu nutzen und beherzt zu handeln.

Gleich nachdem ich die Schüssel überreicht bekam, rückte ich mein Bein von Oma weg, so dass ein Schlitz zwischen uns frei wurde. Dann täuschte ich eine ungeschickte Bewegung vor, und schon sauste die Schüssel runter auf den Fußboden. Oma und ein paar Nachbarn zur rechten und linken Seite stießen einen spitzen Schrei aus. Ich aber war längst unten auf dem Fußboden und sammelte die Brotkrumen auf. Glücklicherweise hatte ich zu Hause vergessen, meine Schürze auszuziehen und noch glücklicherer Weise hat die Schürze vorn in der Mitte eine tiefe Tasche, ein Umstand, der sicher vom lieben Gott gewollt war. Als ich wieder auftauchte und das Tablett an Oma weiterreichte, fielen ihr fast die Augen aus dem Kopf und ihre Ohren färbten sich feuerrot. Von dem roten Saft hat sie in der Aufregung nicht einmal genippt.

Auf dem Nachhauseweg verdrückte Oma, ohne auch nur einen Ton über die gelungene Aktion zu verlieren, einen Krumen nach dem anderen, und ich wachte darüber, dass sie die Krumen nicht runter schlang, sondern jeden einzelnen ordentlich kaute, zweiunddreißigmal. Als unser Haus in Sichtweite kam, blieb sie stehen, beugte sich zu mir hinunter, hob mit dem Zeigefinger mein Kinn an, so dass ich ihr in die Augen schauen musste, und sprach mit brüchiger, fast flehendlicher Stimme: „Kind, versprich mir, zu niemandem ein Wort. Zu niemandem!“ Ich versprach es, was sie sehr zu erleichtern schien. Mir macht ein Geheimnis mehr oder weniger nichts aus, ganz im Gegenteil, sie haben etwas Besonderes irgendwie Prickelndes an sich, was mir Freude bereitet. Von nun an studierte Oma alle Kirchenblättchen sehr sorgfältig, und wir zogen ein um das andere Mal los, sogar zu den Katholiken, wo es ein bisschen anders zuging, aber das lernten wir schnell. Oma blühte richtig auf, was sogar Mutti bemerkte und freudig zum Ausdruck brachte.

Mit der Zeit aber wurde Mutti aus zwei Gründen stutzig. Erstens wunderte sie sich darüber, dass ich darauf bestand, mit der Schürze in die Kirche zu gehen, und zweitens konnte sie sich nicht erklären, warum ich so oft und dazu noch freiwillig mit der Oma loszog, wo ich doch, was jeder wusste, nicht mit Sitzfleisch gesegnet war. Der Grund für unsere zahlreichen Kirchgänge kam aber nicht durch sie ans Tageslicht, sondern durch Tante Marie.

Als ich Oma einigermaßen herausgepäppelt hatte, kam mir die Idee, auch Tante Marie eine Freude zu bereiten. Schließlich hatte ich den Tipp mit dem Gottvertrauen und der Quelle von ihr. Deshalb gab ich Oma nicht mehr alle Brotkrumen zu essen, sondern sparte ein paar davon in meiner Schürzentasche auf, die ich dann Tante Marie heimlich aufs Kopfkissen legte, damit sie abends eine Überraschung und ein Betthupferl hat. Das ging einige Male gut. Doch eines Tages ertappte mich Tante Marie bei frischer Tat und sagte freundlich: „Da haben wir ja endlich unser kleines Heinzelmännchen.“ Und weil sie immer allen Dingen auf den Grund geht, verwickelte sie mich geschickt in ein Gespräch über Essereien. Ich dachte sofort an mein Versprechen, presste die Lippen fest aufeinander und gab keinen Pieps v on mir. Da sagte Tante Marie völlig überraschend: „Wer so verbissen schweigt, der hat etwas zu verbergen. Heraus damit.“

„Nein, nichts“, sagte ich mit schlauem Augenzwinkern. „Es ist  vom himmlischen Vater. Aus seiner Quelle.“

Da wurde sie erst richtig neugierig. Und weil ich eitel war und von ihr dafür gelobt werden wollte, wie gut ich ihre Worte verstanden und umgesetzt hatte, wurde ich leichtsinnig und vergaß ein wenig das Versprechen, das ich Oma gegeben hatte.

„Matthäus sechs“, sagte ich verschmitzt und hoffte, dass es endlich klick bei ihr machte. Und wirklich, jetzt konnte man richtig sehen, wie es hinter Tante Maries Stirn zu wirbeln begann.

„Hat es etwas mit euren häufigen Kirchgängen zu tun?“

„Ja, damit hat es zu tun.“

„Wird dort Brot und Wein gereicht?“

„Nur Brot und roter Saft, aber den trinke ich nicht, weil ich nicht aus Gläsern trinken darf, aus denen vorher andere getrunken haben.“

„Schon gut. Das reicht“, sagte Tante Marie, und ich bemerkte, dass sich ihr Gesicht in ganz kurzer Zeit farblich verändert hatte, irgendwie ganz bleich war sie geworden – weiß wie ein Bettlaken. Noch ehe ich etwas Nettes sagen konnte, drehte sie sich um, rannte die Treppe hinunter, öffnete ohne anzuklopfen die Tür  und rief erregt: “Johanna! Ich kann nicht fassen, was ich von dem Kind gehört habe. Ich kann es nicht fassen.“

Alsbald standen wir alle um die völlig außer sich geratene Tante Marie herum und Mutti fragte beschwichtigend: „Was ist denn nun schon wieder passiert? Wenn ich bitten darf, langsam und der Reihe nach.“

„Hast du denn nichts von dem Treiben gemerkt, Elfrun?“ Tante Marie wandte sich Mutti zu. „Ich kann dir nicht sagen, wie sie es anstellt, aber sie benutzt das Kind skrupellos, um sich am Leib Christi zu vergehen. Sie missbraucht das heilige Abendmahl in schamlosem Eigennutz, um ihre leiblichen Begierden zu stillen. Das ist barbarisch, das ist…“ Tante Marie schnappte nach Luft bevor sie die furchtbaren Worte in den Raum schmetterte, die mich so erschrecken ließen wie ich noch nie zuvor in meinem Leben erschrocken war. „…das ist übelster Kannibalismus.“  Und zu Oma gewandt fuhr sie fort: „Für das Kind kann ich um Vergebung flehen. Es ist unschuldig. Aber für dich, Johanna, kann ich nichts tun. Du hast dich wissentlich zum Werkzeug Satans machen lassen.“

Mir war ganz schlecht geworden. Ich hatte Angst, dass sie sich hauen. Bei dem Wort Kannibalismus habe ich angefangen zu weinen. Tante Marie hat Oma und mich Menschenfresser genannt, und die gibt es doch nur bei den Wilden, und die Wilden fressen nur ihre Feinde, niemals ihre Freunde, und wir haben auch nichts von den armen Herrn Jesus abgefressen, nur ein paar Brotkrumen und…

„Schluss jetzt“, rief Mutti energisch. „Kein Wort mehr vor dem Kind. Seht ihr denn nicht, wie es zittert.“ Sie kam endlich zu mir und legte den Arm um mich. Tante Marie murmelte im Hinausgehen: „Johanna, Johanna, wie konnten wir uns geistig nur so weit von einander entfernen.“ Oma hatte Zuckungen im Gesicht und schlich wie ein verprügelter Hund in ihre Kammer. Ich werde nie wieder ein Geheimnis verraten, nie wieder.

Als wir in der Nacht wegen Fliegeralarm nicht schlafen konnten, nutzte Mutti die Zeit, um mir den Sinn vom heiligen Abendmahl zu erklären. Der Sinn ist, dass der Herr Jesus wollte, dass er von den Jüngern und allen anderen Menschen nicht vergessen wird, nachdem er für alle gestorben ist. Deshalb dachte er sich etwas Besonderes aus. Er nahm ein Brot, brach es, gab allen ein Stück zu essen und sagte: Das ist mein Leib. Dann goss er Wein in einen Kelch, gab allen davon zu trinken und sagte: Das ist mein Blut, das für euch vergossen wird. Auch wenn seither viele Jahre vergangen sind, ist der Brauch erhalten geblieben. Alle Menschen, die an den armen Herrn Jesus glauben, nehmen zu seinem Gedenken einmal im Jahr Brot und Wein zu sich. Trotzdem bleibt Brot Brot und Wein Wein. Das mit dem Leib und dem Blut stellen sich die Menschen nur in Gedanken vor. Auch handelt es sich bei dem richtigen Abendmahlbrot um ein besonderes, nämlich um ein ungesäuertes Brot, und das ist ein Brot, das nicht mit Hefe gebacken ist. Oma und ich haben aber mit Sicherheit nur Brot gegessen, das mit Hefe gebacken wurde, und das gilt nicht als Leib. Tante Marie ist somit im Unrecht und müsste sich eigentlich dafür entschuldigen, dass sie uns Kannibalen geschimpft hat. Mutti meinte aber, ich soll ihr nicht noch damit kommen und meinen Mund halten, damit Gras über die leidige Angelegenheit wachsen kann. Auch musste ich ihr versprechen, meine Finger für immer von den gesäuerten Kirchenkrumen zu lassen, einerlei wie groß der Hunger und damit die Versuchung ist, dem ein bisschen abzuhelfen.

„Versprich mir das, Grit.“

„Wie geht das?“

„Was meinst du?“

„Wie soll da Gras darüber wachsen?“

„Ach das. Das ist eine Redensart. Gras braucht Zeit zum Wachsen, und Tante Marie benötigt Zeit, um sich zu beruhigen. Sie nimmt alles sehr ernst, was mit ihrem Glauben zusammenhängt.“

„Hat sie einen anderen Glauben als Oma und du?“

„Nein, im Grunde nicht. Wir glauben alle an den einen Gott im Himmel und an seinen Sohn, Jesus Christus, der für uns gestorben und wieder auferstanden ist.“
Vor Erleichterung tat ich einen tiefen Atemzug. Einen Moment hatte ich befürchtet, dass es noch eine Menge andere liebe Gotts gibt und Tante Marie einen für sich ganz allein hat, den sie Jehova nennt.

„Heiliges Ehrenwort“, sagte ich und fügte als Verstärkung hinzu: „Ich verspreche es beim Leib vom armen Herrn Jesus.“

„Dein einfaches Ehrenwort genügt mir“, sagte Mutti, schüttelte ein wenig missbilligend den Kopf, wahrscheinlich, weil ich wieder armer Herr Jesus gesagt hatte, schloss dabei kurz die Augen und lächelte ein ganz klein wenig. Trotzdem denke ich, dass es für uns besser wäre, wenn wir alle bei den Bibelforschern wären, oder bei den Landeskirchlichen oder bei den Adventisten oder meinetwegen auch bei den Katholiken und jeder für sich irgendwo, denn dann gäbe es weniger Streit in unserer Familie.

Alles war wieder gut. Im Moment jedenfalls.

 

 

4

Peng getroffen

Wir haben jetzt immer öfter Fliegeralarm, manchmal am Tag, aber meistens in der Nacht. Wenn die Sirenen nachts losheulen, werde ich geweckt und angezogen. Dann sitze ich mit Mantel, Mütze und Straßenschuhen auf dem Bett, weil wir ja immer damit rechnen müssen, dass ein Flugzeug aus Versehen eine Bombe verliert und wir fix ausreißen müssen. Manchmal schlafe ich mitten im Fliegeralarm wieder ein und wache erst auf, wenn alles vorbei ist und die Sonne zum Fenster hereinschaut. Mutti bringt es nicht übers  Herz, mich wegen der dicken Sachen aufzuwecken. Das ist gut und nicht gut zugleich, denn am nächsten Tag fühle ich mich nicht gesund, schwitze und friere abwechselnd und habe zu nichts Lust.

Wir bleiben bei Fliegeralarm immer in der Wohnung. Fast alle anderen Leute gehen in den Keller oder in den öffentlichen Luftschutzraum im Gaswerk. Im öffentlichen Luftschutzraum kann man auch sitzen, wenn kein Alarm ist, denn er ist gleichzeitig eine Wärmestube für Menschen, die keine Briketts mehr haben und deshalb in ihrer eiskalten Wohnung erfrieren müssten.

Unsere kleine Stadt ist nicht leicht zu finden. Sie liegt in einem Tal versteckt und ist von Bergen und Wäldern umgeben. Nachts darf auf den Straßen und in den Häusern kein Licht brennen. Es ist überall finster und still, fast so, als wären wir schon alle gestorben. Nur Tante Marie hört man ab und an oben im Altenstübchen durch die Wohnung schleichen, weil die Dielenbretter gespenstig knarren.

Frau Pan hat uns schon mehrmals angeboten, dass wir zu ihnen rüber in den Keller kommen sollen, weil unser Keller nichts taugt und keiner mehr rauskommt, falls das Haus darüber zusammenkracht. Ich wäre auch viel lieber drüben bei Pans als angezogen auf dem Bett zu sitzen, während Mutti die meiste Zeit am Fenster steht und den Himmel beobachtet. In Pans Keller wäre der Fliegeralarm nicht so langweilig, denn ich könnte mit Melli zusammen sein und mit ihr spielen. Manfred Sperling von unten im Erdgeschoss geht jedes Mal rüber. Ihn könnten wir nach dem Teufelszeug ausfragen, denn wir wüssten gar zu gern, wo er das versteckt hat. Bisher hat er mir nur erzählt, wie sehr er es knallen lassen kann, wenn er will, fast so laut, dass alle denken, es sei eine Bombe eingeschlagen. Ich weiß, dass er manchmal allein im Waschhaus ist und den Riegel vorschiebt. Vom Waschhaus führt eine Maueröffnung in eine kleine, muffig riechende, fensterlose Höhle, die früher eine Räucherkammer gewesen sein soll, und ich vermute, dass dort das Versteck sein könnte, aber so gern ich auch möchte, ich traue mich nicht hineinzukriechen, denn es ist drinnen stockfinster und bestimmt voller Spinnen.

Heute war so ein Tag, wie ich ihn nicht leiden kann, denn in der Nacht war wieder Fliegeralarm gewesen. Zu allem Übel war die Schwester Martha aufgekreuzt und saß seit einer Ewigkeit mit Oma in der Küche. Ihre Quietschstimme drang bis zu uns ins Wohnzimmer und nervte auch Mutti, die ungeduldig auf die Uhr sah, sich aber nicht traute, die Schwester rauszuekeln.

"Komm Grit, wir gehen mal schnell rüber zum Ditschens Willi und sprechen mit ihm über den Pflaumenbaum", sagte sie ganz unerwartet.

Gemeint ist das Wunder Gottes oben im Garten am Zaun, das ein bisschen hinüber auf das andere Grundstück gewachsen ist, was den Ditschens Willi zu der Drohung veranlasst hat, ihm die Wurzeln abzuschlagen.

Ich erschrak. Gerade gestern Abend haben Melli und ich dem Ditschens Willi eins ausgewischt, wie wir es uns vorgenommen hatten. Na ja, bei mir ist nichts gekommen, aber Mellis Bächlein ist mindestens fünf Stufen runter gelaufen. Das könnte noch nicht entdeckt und weggewischt worden sein. Selbst wenn es noch zu sehen wäre, wer sollte auf uns kommen? Uns hat keiner gesehen. Und irgendwie war ich auch neugierig zu sehen, wie die Treppe bei Tageslicht aussah.

"Ich bin gleich fertig", rief ich Mutti zu. Mein neuestes Lieblingsspiel ist, Stecknadeln mit bunten Köpfen nach Farben zu sortieren und so ins Nadelkissen zu stecken, dass ein Blümchenmuster entsteht.

Genau wie bei uns sind es im Nachbarhaus sieben Stufen von der Straße bis zur Haustür. Es war nicht schwer zu erkennen, was von Mellis Rinnsal übrig geblieben ist - alles, denn in der Nacht war es angefroren. Muttis Blick fiel auch gleich darauf.

"Welches Ferkel hat sich denn hier vergessen", sagte sie Kopf schüttelnd. "Pass auf, Grit, dass du nicht ausrutschst. Was es doch für ungezogene Menschen gibt ..."

Ich begann gleich, mich ein wenig zu schämen, was eigentlich nicht nötig war, denn es war ja nicht von mir. Wenigstens kam der Ditschens Willi gleich beim ersten Klingeln an die Haustür, und der Fips kam gleich hinterher. Etwas ärgerlich war, dass der Fips nicht sofort zu mir gelaufen kam, sondern dem Ditschens Willi um die dreckigen Hosebeine strich. Der bückte sich zu allem Überfluss auch noch, um den Fips am Hals zu kraulen. Das hatte ich nicht erwartet, eher einen Fußtritt. Wie konnte der Fips, fast mein Fips, sich von so einem Einbeinigen kraulen lassen? Das grenzte schon fast an Treulosigkeit mir gegenüber.

"Grit, wo bist du denn in Gedanken? Hast du überhaupt zugehört?", fragte Mutti verwundert. "Herr Ditsch und ich sind übereingekommen, die Früchte des Baumes zu teilen. Alle Pflaumen, die über den Zaun hängen, darf Herr Ditsch für sich verwenden. Das ist doch eine gute Lösung, meinst du nicht auch?"

"Mir doch egal", antwortete ich bockig und aus lauter Enttäuschung über das Verhalten des Katers fast den Tränen nahe. In diesem Moment besann sich der Fips und kam endlich zu mir. Ich nahm ihn auf den Arm und drückte ihn an mich. Er stank ein wenig, bestimmt nach dem Hosenbein. Aber dafür, dass er sich endlich an mich schmiegte und zu schnurren begann, nahm ich den Gestank in Kauf.

"Ist tierlieb, das Mädel", sagte der Ditschens Willi beinahe wohlwollend, "ist mir schon aufgefallen. Sie kann mit Tieren."

"Auf ihren Stufen hat sich jemand entleert. Passen Sie auf, dass Sie nicht stürzen mit ihrem Bein." Mutti deutete auf Mellis Pisse. "Was für eine Ungezogenheit!"

Mir wurde heiß im Kopf. Zum Glück kam Manfred Sperling gerade von der Arbeit nach Hause. Ich ließ den Fips schnell runter und rannte ihm hinterher in unser Haus. Mutti hatte nichts gemerkt.

"Was willst'n?" fragte Manfred, "'n Knaller?"

"Du gibst mir ja doch keinen."

"Komm dann mal runter, aber erst, wenn deine Mutter außer Reichweite ist. Kapiert?"

"Ins Waschhaus?"

"Schnauze, du weist von nichts, verstanden."

Ich nickte zustimmend. Vor großen Jungen habe ich ordentlich Respekt. Jedoch die Aussicht, endlich etwas von dem geheimnisvollen Teufelszeug zu sehen, es vielleicht anfassen und knallen lassen zu dürfen, ließ mich jedes Versprechen geben und beflügelte meine Fantasie: endlich würde sich das Geheimnis lüften.

"Ich komme runter", flüsterte ich mit verschworener Miene, "aber warte auf mich."

"Na klar. Nichts lieber als das." Er grinste nur und klopfte sich mit dem Zeigefinger an die Stirn. "Peng, peng!"

Komisch ist er schon irgendwie, der Manfred. Vielleicht ist er das aber nur, weil seine Mutter krank ist, laut jammert und bald stirbt. Oma hat erst letztens zu Mutti gesagt, dass das eine Erlösung für alle im Haus wäre und dass der Junge dann ins Heim kommt, in dem hoffentlich einer ist, der ihm beibringt, wo es im Leben lang geht. Schon wegen der Aussicht wollte ich die Einladung ins Waschhaus auf keinen Fall verpassen. Oben bei uns saß die Schwester Martha noch immer in der Küche. Mutti hatte sich zu ihnen gesellt und mit Gepolter begonnen, die Schubladen auszuwischen. Wenn das kein Wink mit dem Zaunspfahl war? Mir kam Muttis Aktivität sehr gelegen. Ich verschwand unauffällig im Wohnzimmer und huschte von dort ins Treppenhaus. Im Nu war ich unten und klopfte an die Waschhaustür.

"Los, kletter da hinten rein", sagte Manfred. Er hielt eine Taschenlampe in der Hand und leuchtete in das Loch, und mit Erstaunen sah ich, dass er sich in der ehemaligen Räucherkammer so etwas wie eine Wohnung eingerichtet hatte. Eine Matratze war da, eine Decke, mehrere Sofakissen, Kerzen und Tante Maries Messingwärmflasche, die sie schon lange gesucht hat.

"Guck nicht so behämmert. Ich schlaf da manchmal, wenn sie zu laut stöhnt", erklärte er unwirsch.

Drinnen war es zwar kalt, aber ziemlich gemütlich. Auf dem Boden lag ein seltsamer Haufen - das Teufelszeug. Manfred holte Streichhölzer aus der Hosentasche.

"Nimm schon. Zünd so'n Ding an. Das sind nur Knaller. Hier, guck mal, 'ne Rennstrecke. Wenn du's hier anbrennst", er deutete auf einen dicken roten Punkt, "laufen fünf Rennpferde los. Im Ziel knallt's. Ist ganz einfach."

Ich hielt die Pappvorlage in der Hand, es waren tatsächlich Pferde darauf gemalt, und tat nach kurzem Zögern, denn das Herumkokeln mit Streichhölzern war mir streng verboten, was er verlangte. Tatsächlich sauste eine Feuerspur los, verteilte sich auf fünf Bahnen und raste mit unterschiedlicher Geschwindigkeit auf das Ende der Spur zu. Dann knallte es fünfmal nacheinander. Beim ersten Versuch bin ich schon ein bisschen erschrocken, aber dann machte mir die Knallerei Spaß, und wir ballerten drauflos, was das Zeug hergab. Bald war die Luft in dem kleinen Kabuff so voller Qualm, dass wir husten mussten.

"Kannst'e alles haben", sagte Manfred plötzlich. "Ich brauch's nicht mehr. Ich geh weg von hier, zu meinem Onkel, und werd' Schornsteinfeger."

"Alles?" Ich traute meinen Ohren nicht. "Das ganze Teufelszeug?"

"Wenn du dich nicht damit erwischen lässt, ist's dir. Kannste deiner Großmutter mal ordentlich einen Schrecken einjagen damit." Er lachte bei der Vorstellung ein bisschen dreckig, ich auch, aber nur, weil ich mir Omas erschrockenes Gesicht vorstellte.

In der ersten Freude über das unerwartete Geschenk vergaß ich alle Vorsicht und stopfte von dem Teufelszeug in meine große Schürzentasche, was rein ging. Dann zerrte ich den Mantel über meinen dicken Bauch, was eine gute Tarnung war. Wohin damit, darüber habe ich nicht genug nachgedacht: vielleicht fürs Erste in meine Spielkiste, ganz unten rein, unter die Bilderbücher.

Guter Dinge stürmte ich die Treppe hinauf und in die Küche. Die Schwester Martha war immer noch da.

"Schuhe und Mantel im Flur ausziehen", rief Oma mir zu. "Was bringst du denn für einen Geruch mit?"

"Vom Fips vielleicht", antwortete ich noch immer ahnungslos, "der war beim Ditschens Willi am Bein und .."

"Das riecht nicht nach Kater", stellte Oma fest. Sie schnupperte und die Schwester Martha, die das gar nichts anging als Besuch, schnupperte auch und sagte streng: "Johanna, das riecht nach Verbranntem."

"Wie siehst du überhaupt aus?", fuhr Oma fort. "Der Mantel verknöpft ..." Sie musterte mich nun genauer. "Und was hast du für einen verbeulten Bauch? Komm mal her zu mir."

Jetzt wurde es ungemütlich. Nur zögernd ging ich zwei Schritte auf sie zu. Oma erhob sich und begann an meinen Mantel rumzufummeln. Dabei kamen die ersten Knaller aus der übervollen Schürzentasche rausgefallen. Sie begriff erstaunlich schnell.

"Du sollst dich doch nicht mit dem Manfred Sperling einlassen. Wie oft haben wir dir das verboten?" Und zur Schwester Martha hin erklärte sie: "Das ist der ungezogene Bengel von unten. Der lernt in der Pyrotechnik und schleppt das Zeug ins Haus. Am Himmel Tag und Nacht die Bomber und bei uns im Haus die Knallkörper. Man ist nirgendwo mehr sicher."

Während sie weiter plapperte und mehr und mehr in Aufregung geriet, griff sie mit affenartiger Geschwindigkeit zuerst nach dem Feuerhaken und zerrte ein paar Eisenringe vom Herd, dann ohne Unterbrechung nach den Knallern und warf alles, beide Hände voll, mit Schwung ins Feuer.

"So, dass du mir nie wieder ..." Weiter kam sie nicht. Denn jetzt begann es in unserer Küche mit solcher Wucht zu explodieren, dass die zwei restlichen Ringe vom Herd durch die Luft geflogen kamen, brennende Kohlen und Asche hinterher ... Alles passierte so schnell, dass mein Angstschrei zu spät kam, und ich nur noch schnell unter den Tisch flüchten konnte. Niemals hätte ich mir träumen lassen, dass die Knaller so ein Unheil anrichten könnten und darum wirklich Teufelszeug waren, - aber Oma? Und, oh Schreck, wie sahen die beiden Frauen auf einmal aus?  Wie der Kohlenklau höchst persönlich. Ich kroch vorsichtig unter dem Tisch hervor. Zur gleichen Zeit kam Mutti angerannt und schrie: "Um Himmels Willen, was ist hier los?" Oma gab keinen Mucks von sich und tat so, als wäre sie gar nicht da. Schwester Martha fing an zu kreischen, ihr langes Schwesternkleid war futsch, sie hatte einen der Ringe abbekommen und nun einen großen Brandfleck genau am Bauch, der noch ein bisschen schmorte. Neben Mutti tauchte plötzlich auch Tante Marie in dem Qualm auf und guckte so bedeppert, dass sie mir fast leid tat und ich ihr auf die Sprünge helfen wollte. Da sowieso alle Blicke auf mich gerichtet waren und das nichts Gutes ahnen ließ, hörte ich mich laut und deutlich sagen: "Ich war das nicht! Das war Oma."

Am Abend dieses Tages konnte ich lange nicht einschlafen, aber statt zur Oma und den Knallern, wanderten meine Gedanken immer wieder hinüber zum Ditschens Willi, und ich sah vor mir den Fips mit erhobenem Schwanz um seine schmuddeligen Hosenbeine kreisen und sich anscheinend nicht daran zu stören, dass der alte Mann hässlich aussah und nicht gut roch. Vielleicht war das ja bei Tieren anders als bei Menschen? Ich könnte niemanden gern haben, der was Ekliges an sich hat. Trotzdem fand ich den Ditschens Willi etwas netter als sonst, weil er den Fips gekrault und nicht getreten hatte, ahnte auch, dass Melli und ich ihm unrecht getan hatten, und beschloss, mir etwas einfallen zu lassen, irgendetwas Schönes, was ihn freuen würde, nur was - keine Ahnung, vielleicht einen Eimer voll Briketts vom Kohlenhof ...

Die Aufräumungsarbeiten in unserer Küche dauerten mehrere Tage. Dennoch blieben Schäden an den Möbeln und an den Wänden zurück. Eine Fensterscheibe hatte sogar ein Loch und war über die ganze Breite gesprungen. Mutti verlor kein zorniges Wort über Omas gedankenloses Handel; sie war nur auf Schadensbegrenzung bedacht. Zum Schluss hin, als wir einigermaßen mit Putzen fertig waren, sagte sie jedoch: "Nun habt ihr eine gewisse Vorstellung davon, wie das ist, wenn eine Bombe einschlägt."

Nach diesem Vorfall und weil wir jetzt ja wussten, wie eine Bombe wirkt, kam Mutti die Erkenntnis, dass es sicherer sei, wenn wir bei Alarm einen Schutzraum aufsuchen, den Keller drüben bei Pans, aber sie verschob es immer wieder, weil sie meinte, es werden nur Fabrikanlagen zerstört, die für den Krieg wichtig sind. In unserer Umgebung gibt es Spinnereien, Webereien, Färbereien und eine Papierfabrik. Stoff  und Papier, was soll man damit im Krieg schon groß anfangen?

Es war gegen Mittag und ein sonniger, wenn auch noch immer kalter Tag. Ich saß im Wohnzimmer an der Singer-Nähmaschine und war mit dem Stecknadelspiel beschäftigt. Mutti hatte mir eine Vergissmeinnichtblüte aufgemalt, die ich mit den bunten Glasköpfen nachformte, - da heulten die Sirenen los, ein schriller Ton, der auf und ab wogte und uns immer wieder zusammenzucken ließ, obwohl er zum Alltag gehörte und wir an ihn gewöhnt waren. Durch die offene Tür zur Küche sah ich Mutti mit dem Kochtopf in der Hand am Fenster stehen, von wo sie wie üblich den Himmel beobachtete. Im Kochtopf war noch ein Rest von Pans Kloßbrühe, die sie genüsslich auslöffelte. In der Luft hörte man die Geräusche der Flugzeuge, die ihre Bombenlast wie bisher immer in Plauen, der nächst größeren Industriestadt, abwerfen wollten. So hatte man es mir bisher immer erklärt, wahrscheinlich, damit ich keine Angst bekomme. Deshalb war ich eher erstaunt als erschreckt, als Mutti plötzlich den Kochtopf auf den Fußboden fallen ließ, wie der Blitz zu mir gesaust kam, mich vom Stuhl riss, wobei sämtliche Stecknadeln durch die Stube flogen, und an die Wand zwischen den beiden Fenstern zerrte, dort mein Gesicht in ihren Bauch presste, dass ich kaum noch Luft bekam, und sich über mich beugte. Im nächsten Moment krachte es. Sämtliche Fensterscheiben um uns herum splitterten durch dir Gegend. Irgendwelche Balken knarrten. Tische, Stühle, Schränke rutschten über den Fußboden. Das Haus wackelte. Eine Wolke aus schwarzem Staub hüllte uns ein. Wir standen wie gelähmt noch immer an der gleichen Stelle - unverletzt. Die Stille, die nun eintrat, war keine wirkliche Stille, denn auf der Straße begann jemand um Hilfe zu schreien, immer lauter und lauter und verzweifelter. Dort unten musste noch etwas viel Schrecklicheres passiert sein.

Ganz langsam ließ Mutti mich los. Hand in Hand balancierten wir über die Glasscherben in Richtung Treppenhaus. Von dort erreichten uns ebenfalls Hilferufe. Sie kamen von Oma, die einen schrecklichen Anblick bot. Sie stand da wie - ja wie? - wie der Herr Jesus auf dem Bild, als er sein Kreuz schleppen musste und zuvor die Dornenkrone aufs Haupt gedrückt bekommen hatte. Bei Oma war es der Rahmen vom Treppenhausfenster, der ihr entgegen geflogen gekommen war und sich ihr übergestülpt hatte mit all seinen Zacken vom abgesplitterten Glas. Das Blut lief ihr aus unzähligen Wunden über das Gesicht. Sie wankte. Mutti ließ meine Hand los, um sie aufzufangen, denn sie war dabei, in Ohnmacht zu fallen. Wir befreiten Oma von dem Rahmen und setzten sie so auf den Fußboden, dass sie den Kopf an die Stufen lehnen konnte. Mehr Hilfe war im Moment nicht möglich. Oben im Altenstübchen hörten wir Tante Marie eine Melodie summen. Ich kenne den Text dazu, er beginnt mit: Dich, dich Jehova will ich preisen ... Mutti lauschte kurz den lobpreisenden Tönen und sagte mit einem Seufzer der Erleichterung: "Wir leben alle vier. Jetzt aber schnell raus aus dem Haus und rüber zu Pans in den Keller."

Oma und Tante Marie weigerten sich mitzukommen. Deshalb verließen Mutti und ich das Haus allein, denn zum unnützen Reden war keine Zeit. Auf der Straße war ein großer Haufen von allem möglichen Gerät, das es aus den Häusern herausgeschleudert hatte. Betroffen waren unser Haus und das von nebenan. Im gleichen Moment als Mutti versuchte, mir ihre Hand vor die Augen zu halten und mich wegzuziehen, sah ich dort einen blutenden Menschen liegen, nein nicht nur einen, es waren drei, aber einen kannte ich nur zu gut, den Ditschens Willi. Sein Holzbein fehlte. Im selben Moment dachte ich an den Kater. Wo war der Fips? Der Fips! Mutti schien meine Gedanken zu erahnen. "Komm, komm", sagte sie, "nicht jetzt, Grit."

Als mich Mutti Stunden später aus Pans Keller abholte, lagen die drei Menschen nicht mehr auf der Straße. Auch Frau Sperling war weggebracht worden, angeblich ins Krankenhaus. Manfred stand bleich wie eine Kalkwand im Treppenhaus. Er hatte rot umränderte Augen, und als ich ihn verwundert anstarrte, guckte er zur Seite. Er schämte sich offensichtlich vor mir. So hatte ich ihn noch nie gesehen. Sonst hat er immer angeberisch gegrinst oder mich mit irgendeinem frechen Spruch angepöpelt. Manfreds Aussehen, sein so verändertes Verhalten, bereitete mir mehr Unbehagen als der Anblick der blutenden Oma kurz nach dem Einschlag.

In unserem Haus war kein Fenster mehr ganz. Die Kälte hatte freien Zugang in alle Räume. Die Bombe, die Mutti hatte vom Himmel fallen sehen, war in unser und des Ditschens Willis Hinterhaus gefallen. Der Ditschens Willi hatte dort seine Werkstatt gehabt. Beide Hausteile waren zu einem einzigen großer Schutthaufen miteinander vereinigt.

Wie ich so an dem Riesenloch stand, das einmal unser Küchenfenster gewesen war, und den unförmigen Trümmerhaufen beäugte, da sah ich obenauf etwas braun-beige Gestreiftes schimmern, das aussah wie der Schwanz vom Fips. Jetzt gehört er mir, war mein erster Gedanke bei diesem Erkennen, jetzt hat er niemanden mehr auf der Welt, nur mich. Er wird bei mir wohnen, nun, wo der Ditschens Willi weg ist, für immer. Mein ganzes Essen werde ich mit ihm teilen, mein Bett, mein Leben - alles.

Ich stolperte davon, über alle Hindernisse hinweg - die Treppe runter, raus in den Hof, nun schon über Mauerteile hinweg die ausgetretenen Stufen rauf in den Garten. Den riesigen Trümmerhaufen vor mir, auch den bezwang ich ohne Sturz, ohne Verletzung, ohne irgendeine Gefahr auch nur im Ansatz zu bemerken, denn ich wusste, was ich wollte, nur das: ihn zu mir nach Hause holen, für immer, meinen Kater Fips.

Dann stand ich vor ihm. Er lag lang hingestreckt auf dem höchsten Punkt des unförmigen Haufens und schlief. Als ich mich zu ihm bückte, um ihn auf den Arm zu nehmen und heim zu tragen, durchrieselte mich von oben bis unten ein nie gekannter Schmerz, denn obwohl er friedlich vor mir lag, begriff ich, dass sein Schlaf ein besonderer Schlaf war, ein Schlaf für immer und ewig. Mit der gleichen Hellsicht um das unabänderbare Geschehen bemerkte ich die Reste des Wunder Gottes zwischen dem Geröll herausspießen.

Das war der Krieg, der echte, der wirkliche, er nahm einem alles ...

Mutti bemerkte mich halb erfrorenes Häuflein Unglück, kletterte zu mir hin über die Trümmer und rettete mich, indem sie mich mit einer Wärmflasche ins rasch von Splittern gesäuberte und frisch bezogene Bett steckte. Sie saß lange neben mir, versuchte mich zu beruhigen, streichelte mich, aber nichts half, nichts, kein noch so liebevolles Wort vermochte mich trösten, nichts ...

Unser Haus war durch eine einzige Bombe, die ein gewissenloser Mensch, ohne an die Folgen zu denken, vom Flugzeug aus abgeworfen hatte, unbewohnbar geworden. Es waren insgesamt vier Bomben, die um uns herum vom Himmel gefallen sind, eine in unser Hinterhaus, eine mitten auf die Straße, da war jetzt ein großes Loch, zwei weitere hatten Wohnhäuser getroffen, deren Bewohner weniger Glück hatten als wir.

 "Grit", sagte Mutti während sie mit der Hand besorgt meine heiße Stirn befühlte und meine Temperatur maß, "wir ziehen für eine Weile aufs Dorf zu meiner Schulfreundin Marga Vollert. Dort wirst du dich erholen. Weißt du, sie wohnt auf einem Bauernhof mit vielen Tieren und freut sich auf uns." Und so kam es, dass wir unser Haus als erste verließen. Oma zog zur Schwester Martha in deren ärmliches Zimmer im Diakonissenhaus. Frau Sperling starb im Krankenhaus. Manfred Sperling kam zu seinem Onkel, dem Schornsteinfegermeister, der ihn als Lehrling einstellte. Tante Marie blieb allein im Haus zurück. Sie hatte sich bereit erklärt, die notwendigen Aufräumungsarbeiten zu übernehmen und uns Bescheid zu geben, wenn die Fenster neue Glasscheiben bekommen haben. Wann das sein würde, das war nicht abzusehen.

Marga Vollert konnte ich vom ersten Sehen an gut leiden. Ich durfte Tante Marga zu ihr sagen. Sie war so alt wie Mutti, aber viel lustiger als sie. Sie zeigte mir ihren Bauernhof und stelle mich all ihren Tieren vor, die Namen wie Menschen hatten. Sogar in den Hühnerstall durfte ich klettern, um dort in die Nester zu greifen und die frisch gelegten Eier heraus zu angeln, die sie behutsam in einen großen, runden, geflochtenen Korb legte. Die Hühner guckten dabei zu, meckerten ein wenig unwillig, wie mir vorkam, aber sie taten mir nichts. Nur mit dem Hahn sollte ich nicht versuchen anzubandeln, der sei in seinem Verhalten nicht zu kalkulieren, erklärte Tante Marga mir.

"Und Grit, merke dir, zieh nichts Rotes an. Wenn er was Rotes sieht, wird er ganz verrückt." Tante Marga lachte schallend. "Versuch es gar nicht erst."

Im Stillen plante ich bereits einen Versuch. Warum sollte der Hahn bei Rot verrückt spielen? Das sollte er mir erst einmal vormachen!

Tante Marga war sehr froh, dass sie von nun an mich als wichtige Stütze auf dem Hof hatte. Sie erzählte überall herum, wie geschickt ich mich anstelle und dass ich das Zeug dazu hätte, später einmal eine tüchtige Bauersfrau zu werden, wenn nicht gar ihre Nachfolgerin. Solch lobende Worte sagte sie gern in meinem Beisein, ich war sehr stolz darauf und wich Tante Marga kaum noch von der Pelle.

Auf dem Bauernhof wohnten auch die Eltern von Tante Marga. Ihre Mutter besorgte die Küche, ihr Vater kümmerte sich um die Felder und Tante Marga und ich, wir kümmerten uns um den Stall mit den Tieren. Mutti sah ich an manchen Tagen nur zu den Mahlzeiten. Sie war nicht für die Landwirtschaft geschaffen, hatte aber andere Talente, sie schneiderte, strickte Pullover, stopfte Socken und bemalte alte Milchkannen mit Blumenmustern. 

Einmal sagte Herr Vollert zu Mutti: "Wenn das so weiter geht mit dem Mädel, dann wird das nie was mit einer Heirat."

Ich erschrak, aber mit Mädel war nicht ich, sondern Tante Marga gemeint. Darüber wunderte ich mich sehr. War sie denn nicht verheiratet? Die Frage blieb in meinem Kopf hängen, denn so viel ich wusste, waren die meisten Männer entweder in einem Lager oder an irgendeiner Front, um gegen irgendwen zu kämpfen. Warum sollte zu der lustigen und hübschen Tante Marga nicht auch einer von denen gehören, die da in die Ferne geschickt worden waren - nach Norwegen wie Vati, Frankreich oder Russland? Ich wollte das genau wissen und fragte sie.

"Ist dein Mann nicht im Krieg?"

"Ach Grit, was du dir für Gedanken machst." Sie lachte. "Ich habe  keinen hier und keinen im Krieg. Ich kann warten, bis der Richtige kommt. Hör nicht auf den Alten." Sie drohte ihrem Vater aus Spaß mit dem Zeigefinger: "Halt du dich da raus. Das ist meine Sache."

Bei diesem fröhlichen Geplänkel und geselligen Miteinander verging die Zeit wie im Fluge. Bald schien die Sonne wärmer. Die Felder wurden grün. Die Bäume auch. Ich konnte mir ein Leben woanders gar nicht mehr vorstellen. Sicher, der Hahn mit seiner Wut auf die rote Farbe bereitete uns manche unvorhergesehene Überraschung, aber die war auszuhalten, manchmal sogar lustig, weil wir ihn aus sicherer Entfernung gern ein wenig reizten und uns über sein seltsames Gebaren amüsierten.

"Mit dem sollten wir im Zirkus auftreten und ordentlich Geld verdienen", befand Tante Marga. "Grit, das wäre eine Aufgabe für dich, wenn du größer bist."

Ich war begeistert und fest entschlossen, die Herausforderung anzunehmen, dem Hahn zu schauenswerten Leistungen zu verhelfen. Es gibt sogar einen Beruf für solche Sachen: Tiertrainer, und es sind nicht nur Hühner, denen man was beibringen kann, Hunden, Pferden, Schweinen, Ziegen und manchen Vögeln auch. Ich rannte zu Mutti, um ihr meinen Berufswunsch für später mitzuteilen.

Mutti hatte bereits auf mich gewartet. Sie tat so, als müsste sie mir etwas Wichtiges mitteilen und zog mich zu sich auf den Schoß.

"Grit, du hast dich hier auf dem Bauernhof wunderbar erholt. Es wird nun Zeit, dass wir zurück nach Hause fahren. Oma und Tante Marie warten bereits auf uns. Auch ist der Krieg endlich vorbei. Vati wird gewiss bald wieder bei uns sein. Freust du dich?"

Von Freude konnte keine Rede sein. Nicht einmal über das Ende des Krieges. Ich hatte das alte Leben fast vergessen und erinnerte mich nur dunkel an das Unglück mit der Bombe und unser kaputtes Haus, irgendwie so, als hätte ich das alles nicht selbst erlebt, sondern vor langer Zeit aus einem Geschichtenbuch vorgelesen bekommen. Nein, ich wollte nicht zurück, ich wollte bleiben und zwar hier.

 "Sei nicht traurig, du kannst mich immer besuchen kommen", sagte Tante Marga zum Abschied und drückte mir einen Kuss auf die Stirn. "Ich weiß gar nicht, wie ich hier ohne dich über die Runden kommen soll. Wenn ich später mal Kinder habe, dann sollen sie so sein wie du."

Das war ein schwacher Trost. Was hatte ich von ihren späteren Kindern? Nichts! Weinend trottete ich neben Mutti her, hin zur Bushaltestelle. Nicht einmal auf ein Wiedersehen konnte ich mich freuen, etwas in mir sagte, dass das nie sein würde: nie.

Während mein Blick die frisch ergrünten Felder und Wälder streifte, der Busmotor brummte und mein Sitz hin und her wackelte, drehte sich ein Karussell in meinem Kopf. Hätte ich Tante Marga nicht auch auf die Stirn küssen sollen? Gleich hinterher, nachdem sie mich geküsst hat? Hätte ich sie nicht bitten sollen, mich auf dem Bauernhof bei sich zu behalten? Hätte ich ihr nicht sagen sollen, dass ich sie gern habe? Nichts von alledem hatte ich getan und nun war alles vorbei ...

"Es wird jetzt alles gut", tröstete mich Mutti, "wirst schon sehen, Grit. Bald sind wir wieder eine richtige Familie." Sie legte den Arm um mich, und ich machte es mir in ihrer Umarmung gemütlich. Bei Mutti im Arm war es schön, bei Tante Marga auf dem Bauernhof aber auf.


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